Abgrenzende Liebe
Wie lange kann ich das noch durchstehen? Dieser Gedanke kam mir in letzter Zeit immer häufiger in den Kopf. Ich liebte meinen Partner sehr, da er eigentlich eine unglaublich aufmerksame und liebevolle Person war. In den gemeinsamen sieben Jahren unserer Partnerschaft ist er nicht nur meine engste Bezugsperson geworden, sondern meine Familie. Deshalb war es so schwierig für mich zu realisieren, dass sich sein Wesen in dem letzten Jahr so sehr verändert hat. Trotz all meiner Bemühungen musste ich mit ansehen, wie er in eine immer tiefere, grenzenlos scheinende Negativität fiel. In seiner Realität war alles schlecht und jeder gegen ihn.
Mal wieder war es eskaliert. Mal wieder schlug er in seiner anhaltenden Verletzung verbal um sich. Anstelle seiner tiefliegenden Traurigkeit Raum zu geben, war Aggression die vorherrschende Emotion. Ich war verzweifelt. Wie sollte ich mit einer Person umgehen, die mich plötzlich zur Zielscheibe seiner Unzufriedenheit macht? Ich wollte für ihn da sein, aber ich wusste nicht mehr wie. Alle Versuche scheiterten. Schlug ich liebevolle Lösungen oder andere Perspektiven vor, endete es im Streit. Hielt ich alle Anschuldigungen aus, endete es im Streit, da mir die Vorwürfe doch zu viel wurden und ich platze. Tat ich meine ehrliche Meinung kund, endete es im Streit. Ob ich ihn mit Samthandschuhen anfasste oder strenge Liebe walten ließ, alles war falsch.
In der Regel verkroch ich mich nach solchen verbalen Kollisionen in die Küche. Erneut zog es mich dorthin. Ich schloss die Tür, lehnte mich an die Wand, die mit wundervoll gerahmten Bildern unserer vielen gemeinsamen Reisen dekoriert war und Tränen liefen meine Wangen hinunter. Das war der siebte Tag in Folge. Ich wusste nicht mehr weiter. Ich machte mir schreckliche Sorgen. Merkte aber auch, dass ich nicht mehr die Partnerin war, die ich gerne sein würde. Inzwischen reagierte ich ihm gegenüber oft genervt und war selbst sehr leicht reizbar. Auch mich zog es allmählich nach unten. Nach Monaten gefüllt mit seiner einnehmenden Antriebslosigkeit, allgegenwärtigen Negativität und unglaublich vielen Streits, sah ich eine Trennung als den einzigen Ausweg. Doch wollte ich ihn wirklich im Stich lassen, obwohl er offensichtlich krank war? Es gab auch noch schöne Momente. Jedoch überwogen inzwischen die Schlechten bei weitem.
Am Tiefpunkt unserer Partnerschaft angelangt, erkannte ich, dass es auch in dieser für mich aussichtslos erscheinenden Situation nicht nur schwarz oder weiß gab. Neben aufopfernder Beziehung oder radikaler Trennung existierten auch einige Grautöne. Ich realisierte, dass meine Bemühungen seine Situation niemals verändern werden. Er muss seine Krankheit anerkennen. Er muss für sich einstehen und ernsthaft Verantwortung übernehmen. Er muss die Arbeit tun, ich kann es nicht für ihn übernehmen.
Ab diesem Zeitpunkt versuchte ich mich ernsthaft abzugrenzen. Anfänglich nicht immer erfolgreich.
In meiner Freizeit verabredete ich mich wieder mehr mit Freundinnen, ließ sie nach monatelangem Versteckspiel an meiner momentan schwierigen Partnerschaft teilhaben, verlies öfters das Haus für Sport oder Spaziergänge und fokussierte mich mehr auf mein Wohlergehen. Aber vor allem begann ich ganz direkt mit meinem Partner zu kommunizieren. Ich teilte ihm mit, dass ich nicht mehr so weitermachen möchte und mich mehr abgrenzen werde. Ich erklärte ihm, dass eine Partnerschaft nicht alles aushalten muss, seine aktuelle gesundheitliche Lage meine Kapazitäten überschreitet und er intensive, professionelle Hilfe benötigt. Das führte natürlich erstmal wieder zu Streit. Meine stetige Abgrenzung trug jedoch nach einigen Wochen Früchte. Er wurde einsichtig und holte sich Hilfe.
Es folgten zwei Klinikaufenthalte, die unglaublich viel bewirkten. Er nahm ernsthaft Verantwortung für sein Leben und war plötzlich bereit ganz neue Dinge auszuprobieren. Dinge, die ich ihm in der Vergangenheit schon häufig vorgeschlagen hatte, wie Journaling, kreatives Arbeiten oder Achtsamkeit. Um diese Ratschläge annehmen zu können, benötigte er eine professionelle, externe Person, nicht mich als Partnerin. Mit der Zeit ließ er sogar enge Freunde an seinem gesundheitlichen Zustand teilhaben. Stück für Stück wurde er wieder die liebevolle Person, in die ich mich einst verliebt hatte. Natürlich war nicht plötzlich nach sechs Monaten alles perfekt, aber der Wind schien sich langsam in eine andere Richtung zu drehen.
Ich wusste, dass der Weg noch lange sein wird, da die Veränderung alter Muster vor allem Zeit benötigt. Seine ernsthafte Bereitschaft aus der Depression herauszukommen, motivierte auch mich dazu noch weiterhin in unsere Partnerschaft investieren zu wollen – jedoch nicht aufopfernd und bedingungslos, sondern als abgrenzende Liebe.
von S.A.
Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.
Kontakt: kontakt@angehoerige-im-mittelpunkt.de
>> zurück zur Übersicht mit allen Geschichten, Gedichten und Bildern.
>> zurück zur Aktionswebsite www.angehoerige-im-mittelpunkt.de