Angehörige machen Geschichte(n) – Angehörige zu sein, heißt für mich

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Angehörige zu sein, heißt für mich

den Schmerz der Betroffenen wahrzunehmen und mitauszuhalten, diese Enttäuschung bei „Rückschlägen“, beim Nichtrauskommen aus jahrelang festgefahrenen Denkmustern und Verhaltensweisen, die Wut und Verzweiflung, dass das eigene Leben sich aufgrund der Erkrankung so anders entwickelt hat, als ursprünglich erhofft.

Aber es bedeutet für mich auch
immer wieder großen Stolz auf und Hochachtung für mein (erwachsenes) Kind, das letztlich immer wieder die Kraft aufbringt, dafür zu kämpfen, sich doch ein Leben aufzubauen, indem es sich wohler fühlen kann. Dafür empfinde ich auch viel Dankbarkeit, denn ich als Mutter wünsche mir natürlich nichts sehnlicher, als dass mein Kind sich in ihrem Leben wohl fühlen kann.

In den vergangenen letzten Jahren wurde deutlich, dass meine Tochter sich nicht („nur“) in einer schweren Lebenskrise befand, sondern seelisch so sehr erkrankt war, dass sie sich immer mehr isolierte und in eine – anderen nicht mehr zugängliche bzw. nachvollziehbare – Welt zurückzog. Die jahrelangen Coronaeinschränkungen verschlimmerten ihren Zustand noch mehr, Hilfsangebote waren nur noch in extremsten Notsituationen zugänglich. Alles zusammen verhinderte, das zu haben, was sie sich so sehr wünschte: Freunde, Arbeit, ausreichendes Einkommmen etc..
Also TEILHABE am sozialen Leben und das Gefühl von Selbstwirksamkeit… Das, was wir uns alle wünschen. Und brauchen.

Erst nach jahrelangen schmerzlichen Enttäuschungen, großer Einsamkeit und Verzweiflung und sehr langem Zögern aus Angst vor Stigmatisierung und Zwangsmedikation hat sich meine Tochter aus eigener Initiative in psychiatrische (teilstationäre) Behandlung begeben. Sie konnte diese dann auch annehmen, da sie sich selbst dafür entschieden hatte und für sich gut nutzen. Ihre Erfahrungen, ihr Zustand hatte in der Psychiatrie endlich einen Namen, eine Erklärung bekommen und sie hatte nette Leute kennengelernt, denen es ja genauso ging, wie ihr- das war für sie einerseits sehr erleichternd, andererseits auch weiterhin schwer, Außenstehenden zu vermitteln, was sie jahrelang gehindert hatte an einem „normalen“ Leben teilzunehmen.

Seitdem hat sich vieles für sie zum Besseren verändert und für mich auch. In den Zeiten, in denen ich als Mutter die einzige noch verbliebene Bezugsperson war, wurde alle Wut und Verzweiflung an mir abgeladen, was sehr frustrierend und überfordernd war. Aber alle anderen hatten sich abgewandt. Nun haben meine Tochter und ich wieder eine gleichberechtigte Beziehung, in der auch meine Bedürfnisse zu ihrem Recht kommen und wir in einem guten Kontakt miteinander sind. Das ist sehr befreiend für uns beide. Auch die früheren langjährigen Freunde meiner Tochter haben nun wieder guten Kontakt mit ihr.

Ich war in der Vergangenheit oft verzweifelt über diese Wortlosigkeit, dieses betretene Schweigen, diese wenig hilfreichen „Du hast doch getan, was du konntest“ – Phrasen, wenn ich anderen von den Beschwerden oder später von der Diagnose („Schizophrenie“) meiner Tochter erzählte.
Mittlerweile macht es mich nur noch sehr wütend, dass über andere Erkrankungen so viel und so offen gesprochen und ausgetauscht wird; immerhin sind mittlerweile auch Depressionen „gesellschaftsfähig“. Aber Psychoseerfahrungen mobilisieren weiterhin Assoziationen von völliger „Unzurechnungsfähigkeit“, Gefahr und Unheilbarkeit. Wie bei allen anderen Erkrankungen ist jedoch auch dabei das Spektrum sehr groß und somit auch die Möglichkeiten, damit einen Umgang zu erlernen oder Hilfsangebote zu erhalten.

Das Schlimmste an einer psychischen Erkrankung ist wirklich die damit einhergehende Stigmatisierung, die sowohl die Betroffenen als auch uns Angehörige trifft.

In einem ganzheitlichen medizinischen Menschenverständnis kann doch auch die Seele erkranken. Was ist daran unwahrscheinlicher als einen Bandscheibenvorfall, Diabetes, Krebs oder Magengeschwüre zu bekommen?? – Es kostet bei seelischen Erkrankungen immer noch zu viel Kraft und Mut – sowohl für die Betroffenen als auch die Angehörigen – zu ihrer individuellen „Schwachstelle“, einer psychischen Erkrankung, stehen zu lernen.

ALLE Erkrankungen, somatische wie psychische, schränken die individuelle Lebensqualität und unsere Teilhabemöglichkeiten massiv ein! Was jemandem hilft, um mit der Erkrankung einen konstruktiven Umgang oder gar Heilung zu finden, ist immer individuell. Manche Menschen schaffen es auch nicht, dass ist auch bei allen anderen Erkrankungen der Fall. Das Leben ist sehr ungerecht. Manche Erkrankungen, sowohl somatische als auch seelische, werden zwar chronisch, aber die davon Betroffenen finden Möglichkeiten, dennoch Lebensqualität zu haben. Wir wissen nie, wie sich etwas entwickeln wird. Und ja, natürlich wünsche ich vor allem meinem Kind, dass sie sich ihrem Leben wieder gewachsen fühlen wird. Aber falls dies nicht so wäre, wünsche ich ihr vor allem, dass sie sich nicht für ihr Schicksal schämen wird, sondern mit Stolz darauf blicken kann, was sie angesichts ihrer Lebensherausforderungen geschafft haben wird.

Mein Traum als Angehörige wäre, dass ich erzählen könnte, dass mein Kind gerade eine Psychose hatte und mir die GesprächsteilnehmerInnen dann interessiert berichteten, welche Therapien, Medikamente o.ä. bei anderen ihnen bekannten Psychoseerkrankten geholfen haben. Denn ich bin sicher, es gibt viel mehr Betroffene und viel mehr Angehörige als wir voneinander wissen. DAS ist „verrückt“.

Hoffentlich werden wir bald „gesund“ in unserem Umgang mit Erkrankungen aller Art und einigen uns auf eine ganzheitliche Sicht auf Medizin und Menschen. Das würde uns allen helfen.

von Renate D.

Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.

Kontakt: kontakt@angehoerige-im-mittelpunkt.de

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