Angehörige machen Geschichte(n) – Eine Entscheidung, die alles verändert

Eine Entscheidung, die alles verändert

Nun ist es so weit. Ich stehe seit einer halben Stunde vor der KJP und versuche mich irgendwie auf das vorzubereiten, was gleich kommen wird. Aber kann ich das? Kann eine Mutter sowas jemals? Es war die schwierigste Entscheidung, die ich in meinem Leben treffen musste. Jetzt in diesem Moment kommt es mir vor, als wäre sie Jahre her. Dabei habe ich den Anruf vom Jugendamt erst vor ein paar Stunden erhalten. Sie haben eine Bereitschaftspflegefamilie für unsere Tochter gefunden. Die Übergabe soll jetzt in der Klinik stattfinden.

Die Entscheidung, dass meine Tochter nicht mehr bei uns leben kann, fiel gestern. Ein Anruf der netten Psychiaterin, die mir die Pistole auf die Brust setzte: Wo sollte Lia in Zukunft leben? Zu Hause oder nicht? Die Psychiaterin sagte, sie dürfe die Entscheidung selbst nicht treffen, nicht mal eine Empfehlung geben dürfe sie. Wir Eltern müssten uns entscheiden. Es war die schwerste Entscheidung, die ich je treffen musste. Und doch schien es nur einen Weg zu geben.

Denn wie sollte ich mit Lias immer stärker werdenden selbstverletzenden Verhalten umgehen? Mit ihren impulsiven Ausbrüchen und Kontrollverlusten, die uns immer wieder zwangen, die Polizei einzuschalten? Wie damit umgehen, dass meine Tochter sich das Leben nehmen wollte? Wie hätten wir es zu Hause schaffen können, dass sie gesund wird?

Die Belastung, unter der jeder einzelne von uns stand, war enorm. Heute weiß ich das. Damals haben wir alle einfach funktioniert. Leichter wurde es, weil alles einvernehmlich war. Meine Tochter wollte in eine Jugendhilfeeinrichtung. Und weil es keine freien Plätze gab, blieb nur der Weg über eine andere Familie, die Bereitschaftspflegefamilie.
Ausweis und Krankenkarte wurden ausgetauscht. Ich war unfähig, etwas zu sagen, war nur körperlich anwesend, konnte die „Pflegefrau“, wie ich sie nannte, kaum anschauen. Ich packte mit meiner Tochter die Koffer, wir fielen uns in die Arme und weinten heftig. Ich sprach ihr Mut zu, wir würden es schaffen, sie würde es schaffen, ich wäre immer für sie da. Papa wäre immer für sie da. Selbst die nette Ärztin hatte Tränen in den Augen, als sie mich verabschiedete, auch sie sprach mir Mut zu. Sagte Worte, die unendlich guttaten: „Lia ist ein tolles Mädchen, sie schaffen das“. Dann stand ich allein da. Nicht nur Lia wurde entlassen, sondern auch wir Eltern. Ich ging allein nach Hause. Ängste, Sorgen und Schuldgefühle plagten mich und doch auch das Wissen, dass es so nicht weitergegangen wäre.

Schwerer Schritt, steiniger Weg
Noch vier Monate zuvor konnte ich Lia kaum noch helfen. Ihr innerer Druck brach in überdimensionalen Wutattacken aus. Sie bedrohte Lehrer, flog von der Schule, von wo ich sie schon vorher immer wieder hatte abholen müssen. Ein Verhalten, das sich seit frühster Kindheit zeigte und sich trotz Therapien und jeglicher Hilfeversuche immer verschlimmerte, bis sie mich mit dem Messer bedrohte und von der Polizei in die KJP gebracht wurde. „Nun wird ihr endlich geholfen“, dachte ich da. Doch man schickte uns wieder nach Hause: „Ihre Familie ist ja durch den Autismus Ihres Sohnes schon bekannt, sie schaffen das gut zu Hause. Und auf unserer Warteliste steht Ihre Tochter ja schon.“ Außerdem könne ich sie doch für ein paar Stunden zur Oma bringen, bis sie sich beruhigt habe. Ich war außer mir, verzweifelt, aufgelöst und sprachlos. Gehen mussten wir trotzdem, es gab keinen Platz in der KJP.

So viel lag hinter uns. Aber noch mehr vor uns. Plötzlich steckte ich in einem System, das noch kaputter schien als es nach außen kaum kommuniziert wird. Ich war entsetzt von der Bereitschaftspflegefamilie. Es gab keine Regeln, Lias Handykonsum steigerte sich plötzlich auf zehn bis 14 Stunden am Tag, sie hatte einen Fernseher im Zimmer, erzählte von Horrorfilmen, die sie sich in der Nacht ansehen konnte, Schule hatte sie keine, da ja auf einen Platz in der stationären Jugendhilfe gewartet wurde und Lia als schwer beschulbar galt. Die Pflegeeltern stritten sich vor ihr darüber, wer von beiden auf die blöde Idee gekommen sei, das andere Kind noch aufzunehmen, das da zeitweise auch untergebracht war.

Ich setzte mich mit dem Jugendamt auseinander, wollte wissen, welche Aufgaben Bereitschaftsfamilien haben. Keine, hieß es. Essen, Trinken und ein Dach über den Kopf, aber die Bereitschaftspflege habe keine pädagogischen Aufgaben, ich solle ruhig sein, sonst würde die Familie Lia nicht behalten und das Jugendamt könne Lia gerade sonst nirgends unterbringen. Hätte ich nicht zufällig eine Freundin bei dem Gespräch dabeigehabt, hätte mir das keiner geglaubt. Wahrscheinlich hätte ich mich selbst in Frage gestellt.
Nach der Bereitschaftsfamilie folgte die stationäre Jugendhilfe. Doch von den Wahlmöglichkeiten, die man gesetzlich theoretisch hat, war keine Sicht. Mein Bauchgefühl riet von der ersten Einrichtung ab. Es war eine nette Wohngruppe mit gutem und fürsorglichem Personal, aber die Rahmenbedingungen stimmten nicht: es gab keine therapeutische Anbindung, wenig Strukturen und Regeln und genau die brauchte Lia doch so sehr. Ein Jahr war sie dort. Es folgten wieder Psychiatrieaufenthalte, Schulängste, zunehmende Selbstverletzungen, bis hin zu einem Suizidversuch mit Notfalleinweisung ins Krankenhaus. Meine Sorgen wurden kaum ernst genommen, Lias Probleme als Pubertät abgetan. Ich forderte eine Versetzung in eine spezialisierte Einrichtung ein, kämpfte mit dem Jugendamt, mit der Wohngruppe, denn die Therapie, die für Lia notwendig gewesen wäre, wurde gar nicht erst beantragt, Medikamente ohne unser Wissen als Eltern angepasst. Als ich die zuständige Ärztin kontaktierte, ermahnte sie mich, dass ich ja eine andere Psychiaterin suchen könne. Doch das war aussichtslos. Kein ambulanter Arzt im Einzugsgebiet nahm Neupatient*innen auf.

Ich musste aushalten, dass keine der Blutkontrollen stattfand, die die Klinik empfohlen hatte. Ich arbeite seit vielen Jahren in einem Krankenhaus und weiß, wie wichtig Blutkontrollen bei Spiegelmedikamenten sind. Doch mein Einfluss als Mutter schien mir genommen zu sein. Sorgeberechtigt zu sein, spielte scheinbar keine Rolle mehr, seit meine Tochter in einer Jugendhilfeeinrichtung lebte.

Es war schwierig. Ich forderte mehr und mehr Rechte ein und holte mir Unterstützung. Dann endlich eröffnete sich die Option einer intensivpädagogischen Wohngruppe, die mehrere hundert Kilometer entfernt war. Sie ist spezialisiert auf Jugendliche mit selbstverletzendem Verhalten, inklusive therapeutischen Angebot. Ich war den Tränen nahe vor Erleichterung, als Lia einziehen konnte. Hier würde alles besser werden.

Endlich Austausch
Lia wurde uns nicht genommen, weil sie nicht bei uns leben durfte, sondern weil sie nicht bei uns leben kann, wenn wir unsere gute Beziehung zu ihr bewahren wollen. Wir möchten ihr schöne Zeiten ermöglichen, die im Alltag mit ihrer ausgeprägten Besonderheit nicht umsetzbar sind. Doch auch hier blieben die versprochenen regelmäßigen Gespräche aus. Ich hatte wieder das Gefühl, dass die Jugendhilfe das Familiensystem nicht beachtet. Lia war nicht nur weit weg, sondern es entstand eine Mauer zwischen uns. Informationen schienen im luftleeren Raum zu hängen. Auch hier kam ich wieder ins Fordern, was mich überforderte, denn ich wollte einen guten Austausch. Ich möchte, dass Lia gesund wird. Dazu gehört doch selbstverständlich, dass Eltern dazugehören und gebraucht werden. Wie sollen Zusammenhänge erkannt werden, wenn man nicht miteinander spricht?

Lias komplexes Symptombild hat eine Geschichte: Mein Päckchen ist zu Lias Paket geworden. Durch meine eigene Kindheit, die von sexuellem Missbrauch geprägt ist, habe ich ein ähnliches Symptombild wie sie. Ich habe es ihr unbewusst vorgelebt, bis ich eine eigene Therapie gemacht habe. Ich habe mein Trauma an meine Tochter weitergegeben. Doch meines ist heute greifbar, Lias versteckt sich hinter einem Vorhang, der erst geöffnet wurde, als uns endlich jemand zuhörte. In ihren Arztbriefen stehen nur Diagnosen und Tests wie IQ-Test, Autismus- und ADHS-Tests. Doch der familiäre Hintergrund wird in einem Satz abgehandelt, obwohl er so wichtig ist. Wäre ich anders einbezogen worden, hätte ich helfen können. Ich ahnte schon lange, welches Päckchen Lia trägt, doch es fiel mir schwer, es in Worte zu fassen. Manchmal dissoziierte ich in den Familiengesprächen, manchmal saß ich eine Stunde lang vor dem Telefon und schaffte es nicht, in der Wohngruppe anzurufen. Sie haben das lange nicht verstanden. Bis ich ihnen eine E-Mail schickte mit dem Betreff „Ohnmacht und Verzweiflung“.
Ich möchte nicht immer fordern. Ich möchte, dass Eltern auch in der stationären Jugendhilfe selbstverständlich dazugehören. Die Hilfe sollte nicht nur dem Kind dienen, sondern immer auch der Rückführung in die Familie. Und da sind wir jetzt. Lia lernt, mit ihren Gefühlen umzugehen und wir lernen, mit ihrem Verhalten umzugehen. Das ist nur möglich, weil es endlich die geforderte Zusammenarbeit gibt und Informationen in beide Richtungen ausgetauscht werden. Trotz der ersten Unstimmigkeiten bin ich der jetzigen Jugendhilfeeinrichtung sehr dankbar. Sie durchschauen Lia, halten an ihr fest und stehen alle Gefühlsausbrüche mit ihr zusammen durch, ohne sie aufzugeben. Der Weg bis hierhin war sehr steinig, und am Ziel sind wir noch lange nicht. Dennoch kann ich es wieder sehen.

Mittlerweile habe ich einige Eltern anderer Jugendlicher aus der Psychiatrie kennengelernt und bin erstaunt, wie ähnlich unsere Erfahrungen mit dem System sind. Es gibt viel Unmut und die wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Theorie und der Praxis unterscheiden sich stark. Wir als Eltern sind Menschen mit eigenen Erfahrungen, Ängsten und Sorgen.
Es war nie meine Absicht, meiner Tochter eine solche Last mitzugeben.

von Vanessa

Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.

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