Angehörige machen Geschichte(n) – Erinnerungsfetzen

woman sitting on wooden planks

Erinnerungsfetzen

Meine Kindheit und Jugend fühlen sich wie zerfetzt an, in einzelne, kleine Erinnerungsfetzen. Viele meiner Erinnerungsfetzen sind nur kurze Szenen – ohne Kontext, ohne zeitliche Einordnung. Mich beschäftigt nicht, welche Erinnerungen mir fehlen und warum sie mir verloren gegangen sind, sondern vielmehr das Gefühl, so viel verpasst zu haben: keine Erinnerungen, keine Möglichkeit, sie mit anderen zu teilen, in ihnen zu schwelgen oder aus ihnen zu lernen. Die Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ nutzte ich als Gelegenheit, meine vorhandenen Erinnerungen niederzuschreiben – in der Hoffnung, dass ich, wie bei einem unvollständigen Puzzle, mit wachsender Anzahl der richtigen Teile das grobe Ganze besser erkennen kann.
Dieser Text ist nur ein Teil meiner ursprünglichen Version, die ich für die Veröffentlichung gekürzt habe.

Mein leiblicher Vater lebt mit einer bipolaren Erkrankung. Ich kann nicht genau sagen, wann sie begann, aber ich müsste zwischen 10 und 11 Jahren alt gewesen sein. Zu Beginn der 5. Klasse zogen wir wegen der Arbeit meines Vaters in eine andere Stadt. Die Arbeit dort tat meinem Vater nicht gut. Schon nach einem halben Jahr ging es für uns drei – meinen Vater, meine Mutter und mich – wieder zurück. Doch das war (für mich) der Anfang vom Ende und der Beginn seiner Krankheit, die sich, ohne zu fragen, in mein Leben drängte.
Die Zeit nach unserer Rückkehr, als wir noch zusammenlebten, ist besonders verschwommen für mich – nur Gefühle von Erinnerungen, nicht einmal mehr Fetzen. Dass es ihm schlecht ging und er nicht wirklich anwesend war, fühle ich deutlich, aber ich habe kaum Erinnerungen an ihn in dieser Zeit. Ich weiß, dass er viele manische und depressive Phasen hatte, oft in Kliniken war und meine Mutter einmal kurz davor war, ihn unter Zwang einweisen zu lassen. Doch wirklich erinnern kann ich mich nicht. Ich weiß nur, dass er in einer schlimmen manischen Phase war, als sich meine Eltern trennten und meine Mutter und ich auszogen. Sprung – ich bin 13? Meine Eltern haben mit mitgeteilt, dass sie sich trennen werden: Mein Vater steht in der Küche und will wegen jedes Teils des Haushalts mit meiner Mutter streiten. Meine Mutter ist müde und genervt, will nicht mehr mit ihm diskutieren und überlässt ihm die Sachen.

Sprung – vor oder zurück? Irgendwann war ich mit ihm noch einmal im Urlaub. Ich weiß nicht mehr, wann und warum ich dort mit ihm war. Vielleicht schon, bevor sich meine Eltern trennten. Es fühlt sich an, als müsste ich noch jünger gewesen sein, vielleicht 11 oder 12? Vielleicht gab es zu dieser Zeit schon die ersten deutlichen Anzeichen seiner Erkrankung, die ich aber noch nicht wahrnehmen konnte – oder nicht wahrnehmen wollte (?). Wir haben ein paar Mal als Familie dort Wanderurlaub gemacht. Ich habe schöne, glückliche Erinnerungen an diese Urlaube. Doch die Zeit dort mit meinem Vater fühlt sich bedrückend an. Ich schreibe „fühlt sich bedrückend an“, da ich nur noch eine Szene des gesamten Aufenthalts erinnere: Es war abends, ich weiß nicht mehr, ob ich schon geschlafen hatte, aber ich war auf der Suche nach meinem Vater. Ich fand ihn in dem kleinen Restaurant im Erdgeschoss unserer Unterkunft. Er saß allein an einem Tisch, vor ihm ein großes Glas Bier, eingesunken auf einer Holzbank und starrte auf sein Glas. Ich sprach ihn nicht an, war erschüttert von diesem Anblick, meinem Vater als Häufchen Elend, der versuchte, seine Traurigkeit im Alkohol zu ertränken.

Sprung – ich bin vielleicht 14 oder 15 Jahre alt: Mein Vater hatte eine Zeit lang eine Partnerin. Ich weiß nicht mehr, ob ich oder meine Eltern es wollten, aber ich besuchte meinen Vater zu dieser Zeit alle zwei Wochen übers Wochenende. Wir gingen sehr oft ins Kino. Kino war eine einfache Lösung, etwas miteinander zu unternehmen, ohne sich wirklich miteinander beschäftigen oder miteinander reden zu müssen. Ich empfand diese Kinobesuche immer als äußerst unangenehm, und sie machten mich traurig, weil sie einfach das waren, was sie waren – ein Ausdruck dessen, wie fremd wir uns waren und es wohl bleiben würden. Noch heute gehe ich nicht gerne ins Kino.

Sprung – ich bin 16 oder 17 Jahre alt? Ich bin allein zuhause. Es klingelt an der Tür und mein Vater steht vor mir. Er hat eine Geschenktüte dabei. Er redet schnell und zieht ein Geschenk nach dem anderen heraus. Drückt sie mir in die Hand, u.a. ein roter Stringtanga mit einem weißen Kreuz auf der Vorderseite, der Schweizer Nationalflagge nachempfunden. Zum Zeitpunkt seiner schlimmsten manischen Phase lebte er in der Schweiz – ein großer Traum von ihm. Von dort kam er auch direkt mit dem Auto: „Einfach durchgefahren!“. Wir gingen noch zusammen zu seinem Auto, einem sportlichen Zweisitzer, rauchten eine Zigarette, und dann war er schon wieder verschwunden. Was wir uns sonst erzählten, erinnere ich nicht mehr.
Wann ich ihn das nächste Mal persönlich sah, erinnere ich auch nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass seine Zeit in der Schweiz sein Anfang vom Ende war. Ich habe keine Erinnerungen mehr an diese Zeit, weiß nur durch Erzählungen, was passiert ist.

Irgendwann fiel sein Kartenhaus zusammen. Ich weiß nicht, wie sein Leben genau weiter verlief. Er war lange in Kliniken und lebte anschließend eine Zeit lang bei seiner Mutter.

Heute hat er wieder eine Frau und ist, so glaube ich, zufrieden.

Sprung – hier sitze ich nun, 34 Jahre alt. Was nehme ich mit aus meinem Versuch, mein Erinnerungs-Puzzle zu vervollständigen? In meiner langen Version sind mir noch einige andere Situationen eingefallen – größtenteils traurige oder bedrückende, aber keine neuen. Meine Suche brachte mich nicht weiter, auf keine neuen Spuren. Aber das ist in Ordnung, denn ich nehme etwas viel Wertvolleres mit: Ich war bereit gewesen, bereit mich mit meiner Geschichte und ihren Erinnerungen auseinanderzusetzen – das Gefühl der Aufarbeitung jetzt gewachsen zu sein. Keine Person kann etwas dafür, was ihr passiert ist, aber wir alle sind allein verantwortlich dafür, davon zu heilen. Habt Geduld mit euch und euren Lieben, sucht und nehmt die Hilfe an, mit der ihr euch wohlfühlt.

Vielleicht könnt auch ihr euch irgendwann mit euren eigenen Erinnerungsfetzen auseinandersetzen – sei es schriftlich, in einem Gespräch oder auf eure ganz eigene Art und Weise. Wir schaffen diese schweren Zeiten!

von Anna

Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.

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