Für meinen Bruder – einige (lose) Gedanken
Du bist besonders.
Hast so eine eigene Welt.
Soviel habe ich darüber schon von dir gehört, dass ich sie gut nachvollziehen kann.
Da gibt es eine andere Welt.
Und dort kannst du all das leben, was dir hier verwehrt ist.
Eigentlich eine kluge Lösung….
In jener Welt lebst du die Größe, die du empfindest.
Kannst mit deiner Intelligenz und deinem großen Interesse an Umwelt, nachhaltigem Leben, neuen Technologien, etc. etwas Gutes und etwas Großes in diese Welt bringen.
Darüber denkst du viel nach, entwickelst Strategien, Lösungen – bis ins kleinste Detail.
So vieles weißt du, kannst es mit Namen nennen, Prozesse beschreiben, große Zusammenhänge sehen.
Vielleicht hättest du ein forschender Wissenschaftler werden können….
Das Zeug dazu hättest du.
Wenn da nicht etwas wäre, das alle Ideen, Motivationen, Pläne immer wieder zunichtemachen würde.
Ich habe dir zugehört – über Jahre – durch verschiedenste Phasen hindurch.
Kenne so manche deiner Motivationen, Sehnsüchte und Pläne.
Deine Intelligenz, deinen guten Willen, dein Bemühen.
Es tut weh, dich immer wieder scheitern zu sehen.
Zurückgeworfen auf eine Realität, die so ganz anders aussieht als das, was du dir erträumst und erhoffst – worauf du hinarbeitest.
Etwas in dir arbeitet dagegen und dieses Etwas ist stark und einflussreich.
Und dieses Etwas ist auch das, was deine Umgebung wahrnimmt, fast ausschließlich.
Und danach beurteilen und behandeln sie dich.
Als jemanden, der gestört ist und stört, verrückt, größenwahnsinnig, seltsam.
Jemand, der nicht passt, jemand, den man loshaben will.
Dieses Bild halten sie fest, auch zu Zeiten, wo vieles rund läuft.
Aber sie halten fest daran, ignorieren alles, was du richtig gut machst und deine Bemühungen zu einem guten Miteinander.
Auch in „guten“ Phasen beschweren sie sich und es ist egal, ob sie im Recht sind oder nicht – sie sind ja die „Normalen“ und müssen sich von daher keine Mühe geben – müssen nicht mal genauer hinschauen.
Merken gar nicht, wie sie in ihrer Kritikfreude und Ablehnung zu dem beitragen, wogegen sie kämpfen.
Aber sie waschen ihre Hände in Unschuld und zeigen selbstgerecht mit dem Finger auf dich.
Und manchmal bestätigst du sie durch dein Verhalten in dem, was sie in dir sehen.
Manchmal möchte ich dich beschützen vor dieser Welt.
Und dabei verliere ich nicht aus dem Blick, dass du auch schwierig und herausfordernd sein kannst.
Aber ich sehe so viel mehr, nehme so viel mehr wahr als das Störende und „Verrückte“.
Du gibst dich nicht mit alltäglichen Oberflächlichkeiten zufrieden. Denkst weiter, weißt in gewissen Dingen mehr als deine Umgebung – die sich für so viel besser hält als du.
Ich weiß um dein Bemühen, dir deine Welt verständlicher und auch erträglicher zu machen.
Und deinen Wunsch nach Anerkennung, der so selten Erfüllung findet.
Respekt wäre schon viel – oder vielleicht sogar ein gewisses Verständnis.
Oder einfach nur ein genaueres Hinschauen und differenzierteres Wahrnehmen.
Aber wer macht sich schon diese Mühe – es ist so viel leichter, dich abzustempeln.
Für mich ist es manchmal schwer, diese Dynamiken miterleben zu müssen.
Und zu wissen, dass es so anders sein könnte….
Manchmal möchte ich dich einfach beschützen vor einer Umgebung, die meint, sich vor dir schützen zu müssen.
Manchmal wünsche ich mir so sehr, dass sie ein bisschen mehr verstehen und sich ein bisschen mehr Mühe geben würden.
Ihre eigene Verantwortung an schwierigen Situationen sehen könnten.
Und ihre Möglichkeiten zu einer Lösung beizutragen wahrnehmen würden.
Es gibt noch viel zu tun.
Viel zu verstehen.
Viel zu forschen.
Viele menschliche Qualitäten zu entwickeln – wie Respekt, Toleranz, Differenziertheit, Verständnis, Wohlwollen, Mitgefühl.
Viel zu lernen von uns allen!
Ich schreibe, dokumentiere, reflektiere über deine Genialität, dein Wissen, deine Sorge um unsere Umwelt, deine zukunftsweisenden Projekte, dein Bemühen, dein Straucheln und Fallen und wieder Aufstehen, deinen Ärger und deine Verzweiflung, über die Welt, die du dir in deinem Inneren erschaffen hast und in der du DU SELBST sein kannst und wie dir das hilft, das Leben zu ertragen. Ich schreibe über die ausführlichere Geschichte hinter den Diagnosen (Wissen diejenigen, die diese Diagnosen geben, darum?) Ein ganzes Buch kann ich damit schon füllen.
Ich will in Kontakt bleiben mit dir – zuverlässig und beständig – auch durch Phasen hindurch, wo ich eine Projektionsfläche für dich bin und du mich mit Vorwürfen konfrontierst und auch mal den Kontakt abbrichst. Aus deiner Sicht kann ich die Gründe und Notwendigkeiten dafür verstehen.
Mir bleibt, über all das zu schreiben, weil deine Geschichte vielleicht irgendwann ein wichtiges Puzzleteil zu einem tieferen Verständnis dieses Zustandes (dieser Erkrankung) sein kann.
Und vielleicht wissen wir alle irgendwann genug, um mit Menschen wie dir respektvoller umgehen zu können.
Ich wünsche dir, dass du es erleben wirst!
Dass du immer mehr der Mensch sein kannst, der du bist und auch als solcher gesehen und behandelt wirst!
Und, dass du auch bis dahin ein (möglichst) erfülltes Leben haben kannst – mit Menschen, die tiefer schauen und wohltuende, heilsame Räume schaffen und halten können – im privaten wie im professionellen Bereich!
Das wünsche ich dir (und uns allen) von Herzen!
von Silena
Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.
Kontakt: kontakt@angehoerige-im-mittelpunkt.de
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