Gehofft, gekämpft und doch verloren
Es geschah an einem Donnerstag kurz vor Weihnachten. Wir waren auf dem Heimweg von der Arbeit zum Einkaufen im Discounter. Da klingelte das Handy.
Die Pflegekraft des betagten Nachbarn rief an: Die Polizei sei vor der Tür und hätte unsere Tochter mitgenommen. Sie hätte Autos beschädigt.
Unsere Tochter war nach Mobbing in der Schule seit vielen Jahren psychisch krank, aber nie hat sie so etwas getan. Doch in der letzten Zeit hatte sie verzweifelt über Stimmen geklagt, die sie in den Suizid treiben wollen. Für sie waren das andere Menschen. Vergeblich hatten wir versucht, ihr das auszureden. Wäre doch eher ein Platz in der Klinik frei geworden, oder rechtzeitig ein Termin beim Facharzt möglich gewesen! Auch der Krisendienst hatte nicht geholfen – sie war in der falschen Krankenkasse!
Telefonisch wollte die Polizei uns nichts sagen. Wir müssten auf die Wache kommen. Dort hieß es, es sei mehr vorgefallen, wir sollten auf die Kollegen warten. Diese kamen vom Kommissariat für Straftaten gegen das Leben!!!
Große Erleichterung: Niemand wurde verletzt. Es sei nur Sachschaden entstanden. Doch die Tochter müsse in eine geschlossene Station einer Klinik eingewiesen werden.
Aus der örtlichen Psychiatrie wurde sie am folgenden Tag per Gerichtsbeschluss in eine weit entfernte forensische Klinik verlegt. Wir beauftragten einen Verteidiger und haben ihr Kleidung und Hygieneartikel in die Klinik gebracht. Die durften wir ausnahmsweise abgeben, doch für Besuche, Telefonate oder weitere mitgebrachte Dinge bräuchten wir jeweils eine Genehmigung durch das Gericht.
Es folgten hektische Wochen: Genehmigungen beantragen, Behörden benachrichtigen, Aussagen bei der Polizei, Besprechung mit dem Anwalt, Kündigungen und Ummeldungen. Wir wurden mit Schriftstücken aller Art überschüttet. Die kamen erstmal kurz durchgesehen in einen Karton und nur das Dringenste wurde gleich erledigt. Weihnachten fand nicht statt.
Bei den mittlerweile erlaubten Besuchen (nach Anmeldung, maximal 30 Minuten unter Aufsicht) erfuhren wir, dass unsere Tochter praktisch den ganzen Tag in einer Beruhigungszelle eingeschlossen war. In Anstaltskleidung, ohne Brille (sie war stark kurzsichtig!), ohne Uhr; nur ein religiöses Buch war erlaubt. Die Einrichtung bestand aus Bett, Stuhl, Tisch und Klo, alles am Boden festgeschraubt. Ein Waschbecken gab es nicht, nur die Möglichkeit, kurz unter Aufsicht ins Bad zu gehen. Nach rund einer Woche durfte sie für eine Stunde am Tag auf die Station und erst nach drei Wochen war die Zeit im „Bunker“ vorbei.
Ihre Pflegerin meinte, unsere Tochter hätte Glück, sie würde eine richtig gute Therapie erhalten. Doch die „Stimmen“ in ihrem Kopf ließen nicht nach. Die notwendigen Medikamente wurden ihr vorenthalten. Die zuständige Therapeutin hatte uns zu Anfang telefonisch nach dem Krankheitsverlauf befragt und um Arztberichte gebeten. Diese hatte wir ihr geschickt, nebst Zetteln, auf denen unsere Tochter geschrieben hatte, wie die „Stimmen“ sie beleidigen und in den Tod zu treiben versuchen. Doch ein weiteres Gespräch wurde verweigert.
Unser schriftlicher Protest hatte zur Folge, dass ab sofort alle Kontakte über die Klinikleitung laufen mussten. Unser rechtliche Auftrag als gesetzliche Betreuer sei um einen speziellen Punkt zu erweitern, außerdem höre unsere Tochter gar keine „Stimmen“. Dann wurden auch die Besuche eingeschränkt. Wie es weiterging zeigt der Bericht an das Betreuungsgericht:
Der Gesundheitszustand der Betreuten hat sich im Laufe des vergangenen Jahres ab März verbessert, später aber deutlich verschlechtert:
Die KFP *** hat sich 3 Monate lang geweigert, Frau *** Medikamente gegen die von ihr als psychische Folter empfundenen Stimmen zu geben. Erst auf Anraten des vom Gericht bestellten externen Gutachters wurde Mitte März mit einer entsprechenden Behandlung begonnen. Die bis dahin unbehandelte Psychose hat zu wiederholten Selbstverletzungen geführt.
Unter Behandlung mit einem Neuroleptikum und mit Psychotherapie trat eine deutliche Besserung der Beschwerden ein. Seitdem ist sie in der Lage, die „Stimmen“ als wahnhaft zu erkennen.
Dann wurde unsere Tochter aufgrund einer Verleumdung durch eine Mitpatientin und nach unerlaubter Weitergabe von Schnupftabak in einen Hochsicherheitsbereich verlegt.
Unser Bericht an das Betreuungsgericht führt dazu aus:
Frau *** wurde … nach Regelverstößen aus der Therapiestation … in eine hoch gesicherte Station … verlegt. Dort fand monatelang bis auf Verbote aller Art keine erkennbare Therapie statt. Der Tag war nur durch die Mahlzeiten und den Einschluss über Nacht strukturiert. Seitdem fügt sie sich immer wieder zahlreiche Schnittverletzungen an den Unterarmen zu. Eine von ihr gewünschte Therapie gegen diese unterbringungsinduzierten Selbstverletzungen wurde von der Klinik abgelehnt. Auch die „Stimmen“ sind wieder schlimmer geworden und drängen sie dazu, sich weiter zu ritzen. Zeitweise durfte sie für 3 Stunden pro Woche an der Arbeitstherapie teilnehmen. Die weitere Teilnahme und der Hofgang wurden ihr verboten, nachdem sie von einem Mitpatienten ein Geschenk angenommen hatte.
Frau *** fürchtet, dass die Gewöhnung an „Zeit totschlagen“ aufgrund der unstrukturierten Unterbringung es ihr schwer machen könnte, später einem geregelten Tagesablauf nachzugehen.
Und dennoch: Jahre später, als eine Entlassung in Sicht war, hat unsere Tochter die richtigen Entscheidungen getroffen und konsequent durchgezogen: Sie hat eine geeignete Entlassungsstation gewählt, von dort die Abendrealschule besucht, ihren Alltag als Selbstversorgerin bewältigt und für die Zeit nach der Entlassung die betreute Wohngruppe und den weiteren Schulbesuch geklärt.
Bereits in die Bewährung entlassen, hat sie laut ihren Mit- bewohnern „den Tag genutzt“, war vielseitig interessiert und stand sie als Klassenbeste in der Abendrealschule kurz vor dem Abschluss, aber da hat eine Lungenembolie ihrem Leben mit nur 30 Jahren plötzlich ein tragisches Ende gesetzt.
von Frieda
Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.
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