Angehörige machen Geschichte(n) – Heiter und ein bisschen wolkig

Heiter und ein bisschen wolkig
Aus dem Leben mit einer psychisch kranken Mutter

  1. Normal ist relativ – Zeit auch
    „Du bist nicht meine Tochter, du wurdest im Krankenhaus vertauscht. Meine Tochter ist viel hübscher und hat nicht so eine große Nase wie die, die du da im Gesicht hast. Ein Zinken ist das!“

    Weil ich das Gefühl hatte, ihre Worte nicht mehr länger zu ertragen, rannte ich ins Badezimmer und sperrte mich dort ein. Ich wollte, dass es aufhörte – dass SIE aufhörte.

    „Raus mit dir“, schrie sie und hämmerte gegen die Tür.

    Normalerweise durfte ich das Badezimmer nicht betreten. Es war eines der Verbote in diesem Haus, das genauso irrsinnig war wie seine Begründung: Ich machte zu viel Dreck. Ich glaubte zwar nicht wirklich, dass es stimmte, aber da Mama nicht müde wurde, mir das zu sagen, war es wie ein Mantra. Ich mache zu viel Dreck, also darf ich diesen Raum nicht betreten. Ich darf ihn nicht betreten, weil ich zu viel Dreck mache. Allein die Tatsache, dass ich mich nun in diesem Zimmer befand – mich dort vor ihr versteckte –, ließ mich daher schlecht fühlen. Ich sah in den Spiegel.

    War ich wirklich so hässlich? Meine Augen waren verheult.
    „Komm da raus!“, rief sie. „Komm raus, oder ich hol‘ dich!“
    Meinte sie das diesmal ernst? Oder war es wieder eine von ihren leeren Drohungen?

    Ihre Worte machten mir immer noch Angst. Mehr, als sie sollten, denn ich kannte sie mittlerweile. Also nicht meine Mutter – die kannte niemand –, aber die Worte, die sie verwendete, um mich einzuschüchtern.
    Hier drin konnte sie mir nichts tun, oder?

    Im Kopf maß ich die Stärke der Tür und überschlug, wie viel Kraft man – also meine Mutter – bräuchte, um sie einzutreten. Das Problem dabei waren die Scharniere. Ich war vielleicht hässlich (obwohl das auch immer nur Mama sagte), aber ganz sicher nicht dumm. Und weil ich eben nicht dumm war, wusste ich auch, dass nicht die Scharniere mein eigentliches Problem waren, sondern die Zeit. Schließlich konnte ich mich nicht ewig vor ihr verstecken. Aber Scharniere waren leichter zu bemessen als Zeit. Zeit war relativ. Wie lang war lang? – ungefähr so lange, wollte ich mich verstecken. Ich versteckte mich schon mein ganzes Leben.

    „Ally!“, schrie sie nun.

    Hatte sie eine Tonlage draufgepackt?
    Denn falls ja, so bedeutete das, dass die Sache langsam ernst wurde – wenn sie es nicht ohnehin schon die ganze Zeit war.
    Panisch stemmte ich mich gegen die Tür.
    „Lieber Gott, bitte hilf mir!“
    „Entweder du kommst jetzt von alleine oder ich ziehe dich an den Ohren da raus!“
    Bitte nicht die Ohren!
  1. Krokodilstränen
    Ich wusste, dass sie mich die nächsten Tage quälen würde, wenn ich ihr jetzt nicht gehorchte und ich müsste lügen, wenn ich behauptete, dass mir der Gedanke daran keine zusätzlichen Angstperlen auf die Stirn trieb.
    Was also tun?

    Das Risiko eingehen, die Ohren langgezogen zu bekommen, wenn ich nun die Tür öffnete, oder mich weiterhin verstecken – wenn ja, wie lange? – und danach für eine unvorhersehbare Zeit ihr Sündenbock sein? Normalerweise waren ihre Worte nur leere Drohungen, aber was war hier schon normal?
    „Ally, ich sag` es jetzt ein letztes Mal: KOMM DA RAUS!“
    Okay, jetzt oder nie!

    Vorsichtig drehte ich den Schlüssel und öffnete die Tür nur einen winzigen Spalt, um zu sehen, was mich draußen erwartete – Mama (worauf hatte ich eigentlich gehofft? Dass sie inzwischen gegangen war und mich vergessen hatte, wie sie es sonst gerne tat?). Doch kaum hatte ich einen flüchtigen Blick auf mein Schicksal geworfen, war es auch schon besiegelt: Ihre Finger schoben sich in den Spalt, und damit war ich erledigt.
    Tot!

    Für einen flüchtigen Moment überlegte ich, die Tür wieder zuzustoßen, doch dann würden die Scharniere bzw. der sich schließende Spalt ihre Finger zerquetschen und diese anschließend mich.
    Dann wäre ich … gab es eine Steigerung von tot?

    Viel Zeit zum Grübeln blieb mir nicht, denn in Kürze würde sie mich an den Haaren packen, mich an diesen aus dem Bad heraufschleifen und – das fürchtete ich am meisten – mir die Ohren langziehen. Dann würde sie …
    „Warum weinst du?“, fragte sie plötzlich als gäbe es keinen Grund dazu. Als wäre mein zutiefst angsterfülltes Gesicht einfach nur ein billiger Versuch, Mitleid zu erregen. „Immer diese Krokodilstränen.“ Sie sah mich an, als hätten sie es nicht verdient, ernst genommen zu werden – meine Tränen.
    Konnten Krokodile weinen?
    Und plötzlich fiel die ganze Anspannung von mir ab. Aus leisen Tränen wurde ein Sturzbach, aus Wimmern ein Schluchzen. Ich vermisste meine Mama. Alle Gefühle, die ich so lange tief in mir vergraben hatte, aus Angst vor Fehlern oder unerwarteten Folgen – ich hatte früh gelernt, keine Unwägbarkeiten zu provozieren –, drängten nun an die Oberfläche. Ich hasste sie. Nicht meine Mama, sondern die Frau, die gerade vor mir stand und mich so abfällig ansah – die Frau, die so aussah wie sie. Ich hasste sie und dieses Leben, das nun schon acht Jahre und 127 Tage alt war. Am meisten aber hasste ich das neue Wort „Krokodilstränen“. Es klang gemein, und obwohl ich sonst gerne neue Wörter lernte, beschloss ich, dieses nicht in meinen Wortschatz aufzunehmen. Doch wie das oft mit Dingen ist, die man vergessen will: Sie graben sich besonders tief ins Gedächtnis.
  1. Doppelte Unfreiwilligkeit
    „Lieber Gott, bitte lass Mama gesund werden. Bitte, bitte, lass sie wieder gesund werden.“ Ich überlegte, was ich noch sagen konnte, damit er mir zuhörte.

    War mein Wunsch egoistisch?
    Schließlich hatte ich ein Dach über dem Kopf, durfte zur Schule gehen und hatte außerdem eine ganze Heerschar an Spielsachen und Kuscheltieren (so viele, dass mich meine Klassenkameraden sogar darum beneideten – ebenso wie um unseren Pool), die ich jedoch allesamt eintauschen würde, wenn ich dafür nur meine Mama zurückbekäme. Den hässlichen Gnom, in den sie sich manchmal verwandelte, dachte ich, konnte er (der liebe Gott) ja gleich mitnehmen.

    „Ich weiß, dass es anderen Menschen viel schlechter geht als mir. Du hast sicher sehr viel zu tun, wenn du dich um alle kümmern musst. Aber wenn du zwischen all diesen Dingen einen kurzen Moment Zeit findest, dann bitte hilf meiner Mama.“
    Und dann wurde mein Wunsch tatsächlich erhört – jedoch anders als erwartet.
    „Zwangseinweisung?“

    Das klang, wie eine doppelte Unfreiwilligkeit. Es war ein weiteres Mal, dass ich ein Wort lernte, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, mich nicht an dieses zu erinnern. Aber zunächst musste erst einmal der Gutachter kommen und feststellen, dass Papa keinen Unsinn erzählte und Mama tatsächlich eine Gefahr darstellte – für sich, für uns oder für andere, denn eine dieser Optionen reichte für eine … ich möchte es ungern aussprechen … Zwangseinweisung. Da Mama jedoch wusste, wie sie sich in speziellen, für sie heiklen Situationen zu verhalten hatte, würde es trotz allem kein Selbstläufer werden. Aus diesem Grund hatte Papa mich vor einigen Tagen gebeten, selbst mit dem Gutachter zu sprechen, wenn dieser zu „Besuch“ kam, und die „Dinge aus Sicht der Kinder“ zu schildern. Papa sagte es, als ob er auf einen Kaffee vorbeischaute. Abzuwarten, bis er erschien, damit er Mama mit seiner Stellungnahme eventuell einweisen ließ, kam mir jedoch vor wie ein Verrat. Es machte mich zum Judas.

    Was würde sie von mir und meinem Bruder denken, wenn sie später erfuhr, dass wir davon wussten? Dass wir an ihrer Auslieferung nicht nur beteiligt gewesen waren, sondern sie mit geplant hatten? Würde sie uns dafür bestrafen?
    Kurz darauf hörte ich auch schon die Klingel, dann, wie die Haustür ins Schloss fiel.

    „Der hier ist der Kranke!“, schrie Mama so laut, dass ich fürchtete, die Nachbarn könnten zu allem Überfluss auch noch die Polizei rufen. „Den hier müssen Sie mitnehmen, nicht mich!“ Vor meinem inneren Auge sah ich ihren spitzen Zeigefinger, rot lackiert, gerade direkt auf Papa zeigen. Ich atmete noch einmal tief – tiiiiiiiiieeeeeeef – ein, bevor ich die Bühne betrat.
  1. Nichts als Schutt und Asche
    „Sie sind die Tochter?“
    Das „Sie“ irritierte mich. Ich war gerade elf und der Mann, dem ich nun gegenüberstand, ungefähr hundert Jahre älter – gut, in Wirklichkeit waren es vielleicht 50, aber wenn man elf war, waren alle Menschen über 30 ungefähr gleich steinalt. Mit seinem weißen Bart und dem ebenso weißen, schütteren Haar, sah er aber vielleicht auch einfach nur so aus, als würde er bald sterben.

    „Ja“, presste ich hervor, unsicher, was er noch mehr von mir erwartete.
    „Nun erzählen Sie mal, wie sich Ihre Mutter in letzter Zeit so verhält.“ Seine Stimme klang ruhig, als wäre es einfach eine Frage nach dem Wetter.
    Gut, schlecht, heiter und ein bisschen wolkig … oder sollte ich vielleicht doch besser die Wahrheit sagen? Dass ein Orkan in Gestalt meiner Mutter seit geraumer Zeit durch dieses Haus und diese Familie hier fegte und nichts als Schutt und Asche hinterließ?

    Ich hatte mich nicht auf Fragen vorbereitet. Ich hatte mich überhaupt nicht vorbereitet. Jetzt in diesem Moment aber dachte ich, dass es vielleicht besser gewesen wäre, ich hätte mir ein paar Gedanken über meine Rolle in diesem Schauspiel gemacht.

    Sah mich Papa gerade erwartungsvoll an oder bildete ich mir das Flehen in seinen Augen nur ein? Wollte er mir mitteilen, dass er sich wünschte, ich würde sagen – zugeben –, dass wir es mit Mama hier nicht mehr aushielten?
    Ich öffnete den Mund, bereit etwas zu sagen (was?), doch noch bevor ein Wort herauskam, spürte ich Mamas Blick auf mir. Diese Schärfe in ihren Augen, die mich durchbohrten wie tausend kleine Messerstiche und die sagten: Wag es ja nicht!
    Meine Gedanken rasten.
    Was würde sie tun, wenn man sie heute nicht mitnähme? Bestand überhaupt die Möglichkeit, dass dies geschah? Oder würden wir später wieder alleine mit ihr sein? Denn wenn das der Fall war, so wollte ich lieber gar nichts mehr sagen.

    Plötzlich schnürte mir die Angst die Kehle zu, und ich fürchtete mich vor ihr, wie nie zuvor. Nicht, weil sie uns jemals etwas angetan hätte; nicht physisch jedenfalls (mit der Ausnahme, dass sie uns gelegentlich an den Haaren und Ohren zog). Aber sie konnte dafür sorgen, dass man sich sehr, sehr schlecht fühlte. Sie konnte einen aussperren, weitere sinnlose Verbote erteilen, Besuche von Freunden verbieten und – das hasste ich am meisten –, einem das Gefühl geben, dass mit der eigenen Geburt ein großes Unglück über diese Welt hereingebrochen war. Ein Unglück, für das niemand anderes etwas konnte als sie (gut, vielleicht noch mein Vater), weil sie es gewesen war, die neun Monate zuvor beschlossen hatte, dass dieses Unglück passieren sollte.

    von Elisabeth Bischoff

Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.

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