Angehörige machen Geschichte(n) – Inseln

aerial view of islands

Inseln

Inseln, sie treiben im Meer des Nichts. Manch einer hat versucht sie zu zählen, doch ständig verändert sich ihre Zahl und so will sich niemand auf eine Aussage festlegen.

Jede dieser unzählbaren Landmassen ist anders geformt und glaubt man, eine in ihrer Gestalt, Farbigkeit, Zusammensetzung und Textur erfasst zu haben, da fallen einem bereits subtile Veränderungen ins Auge. Oft bleibt es bei steten aber recht unscheinbaren Wandlungen, doch ab und zu ist eine Insel massiven Umformungen unterworfen und gerade davon soll diese Erzählung handeln.

Jedes Eiland besitzt einen Hüter. Dies ist ein Mensch, der das ihm angehörende Stück Land niemals verlassen kann. Wohl sieht er die Hüter der ihn umgebenden Inseln, kann ihnen etwas zurufen, winken, die Vielfältigkeit der Inselwelt bestaunen – jedoch ist betreten unmöglich.

Das klingt nach Einsamkeit gar Hoffnungslosigkeit, doch wird immer aufs Neue entdeckt, die Landstücke kunstvoll zu verbinden. Dazu hängen an den Ufern unterschiedlich starke Schnüre, von filigranen Fäden bis hin zu dickgewundenen Tauen. Tief hinein ins Nichts ziehen sich diese Bänder, gleich den Tentakeln der durch irdische Ozeane schwebende Medusen.
Kommen sich Inseln nahe, kann es geschehen, dass sich die wirbelnden Schnüre verheddern. Entweder beginnen die Hüter sogleich mit deren Entwirrung oder sie lassen zu, dass sich die Fäden umschlingen und näher ziehen, sich endlich verknoten und zwei Inseln beisammenhalten. Gewöhnlich ist diesem Vorgang etwas vorausgegangen, dass man das Erblicken nennt. Etwas auf einem Eiland hat den Blick eines anderen Hüters gefangen genommen. Berühren sich nun die Blicke beider und sie lassen einander nicht mehr los, beginnt deren Inselverwicklung.

Je länger dieser Zustand andauert, desto mehr Verknotungen bilden sich, besonders an den Ufern, die sich gegenüberstehen. Schweifen die Augen der Hüter über die ihnen fremde Insel und treffen auf Gegebenheiten, die Ihr Erblicken weiten oder gar vertiefen, dann und nur dann können allmählich aus den sich anfangs noch recht lose umschlingenden Tauen feste, stabil verwobene, sogar horizontale Matten entstehen, von den beteiligten Inselhütern begehbar. Beide können sich auf diesen neuen tragfähigen Boden begeben und dort einander zum ersten Mal berühren. Es ist ein unbeschreibliches Fest, einen anderen Hüter von nahem zu sehen, zu erspüren, zu riechen. Doch kommt es vor, dass dieses Ereignis zu einer langsamen, manchmal auch schnellen Auflösung der Verknüpfung führt, die Inseln dann wieder auseinanderdriften und sich die Hüter wieder verlieren. Aber auch das Gegenteil ist möglich, wenn die Berührungen der Hüter noch mehr Schnüre entstehen lassen, die sich mehr und mehr verknoten, umschlingen, verweben bis nicht mehr auszumachen ist, welche Taue einst zu welchem Eiland gehörten. Von solch einem Konstrukt soll hier berichtet werden und von dem, was damit geschah.

Die Menschen zweier Inseln: eine Hüterin und ein Hüter, welche über die Jahre immer vielfältiger miteinander verbunden waren, schliefen für gewöhnlich nicht mehr auf den ihnen eigenen Inseln – schon seit langer Zeit nicht mehr – sondern hatten sich in der Mitte eingerichtet, dort sogar ein gemeinsames Zuhause mit vielen Räumen geschaffen, das von beiden betreten wurde und wo sie einander nahe waren. Selbstredend gab es Phasen, in denen das Bedürfnis kam, sich auf die eigene Fläche zurückzuziehen. Es gab zwischen ihnen ein ungeschriebenes Gesetz, dass dies jederzeit möglich war.

Eines Morgens wurde die Hüterin von schwerem Qualm geweckt, der ihr in die Nase biss. Erschreckt die Augen öffnend, gewahrte sie lodernde Flammen rings umher. An allem, was sie umgab, fraßen sich züngelnde, grellrote Lohen empor. Sie suchte und schrie nach dem männlichen Hüter, in Angst, er könne in der gleißenden Hitze verbrennen. Doch fand sie ihn nicht und stürzte endlich zurück auf ihre eigene Insel. Gerade rechtzeitig, bevor hinter ihr all das, was sich in vielen gemeinsamen Jahren gebildet hatte, von den Flammen verschlungen wurde.

Als sich der Rauch etwas gelegt hatte, erkannte sie auf dem benachbarten Stück Land – es lag noch immer ganz dicht neben dem ihren – eine menschliche Gestalt mit einer Fackel in der linken Hand wild umherspringen. Immer wieder stieß der Fackelträger seine Flamme in Brennbares, das dann kurz aufloderte und verschwand. Das Ganze wurde begleitet von wirrem Gelächter. Entsetzt erkannte sie in dem Brandstifter den Inselhüter, mit dem sie noch letzte Nacht ihr Bettlager geteilt hatte und begriff, dass wohl er es gewesen sein musste, der ihr gemeinsames Heim angezündet hatte, selbst auf die Gefahr hin, dass sie darin umkam.

Seine Insel war nicht mehr wiederzuerkennen. Alles hatte sich verändert: Dort wo vorher Blüten in der Abendsonne gefunkelt hatten, genährt von klaren Bächen, aus denen auch die Inselwesen tranken, standen plötzlich neonfarbene Plastikblumen. Statt leibhaftiger Tiere gab es Holzpfähle, an die deren Abbilder genagelt waren. Einige davon standen bereits in Flammen. Die kahlen, erdgrauen Felsen, die einen Teil der Insel bedeckten, waren urplötzlich kohlschwarz geworden. Eine teerartige Substanz hatte sich darübergelegt. Sie war brennbar, denn Teile der Felsen brannten lichterloh. Darüber hinaus schien ein Erdbeben die Insel schier zu zerreißen, denn sie schwankte heftig hin und her. Auch der lichte Laubwald, der sich hinter den Felsen entlang gezogen hatte, war völlig verändert. Er war düster und dicht geworden. Kein Ort, in den man freiwillig eindringen würde. Und auch dort brannte es schon. Wie konnte sich diese vertraute Insel über Nacht so verändert haben? Sie fand keine Erklärung dafür.

Da trat sie an den äußersten Rand ihrer Insel und schrie dem grell lachenden Feuerträger eine Frage zu. Er sah in ihre Richtung, ihre Blicke kreuzten sich für eine Moment. Doch das kurze Erkennen verlor sich in Sekundenschnelle und sein Blick stach durch sie hindurch, als wäre sie unsichtbar, als gäbe es erst hinter ihr etwas, dass sich zu betrachten lohne. Dann plötzlich wandte sich der Inselhüter ab, lachte erneut schrill auf und begann von seiner ganzen Insel Dinge herbeizutragen. Dinge, die sie kannte, da sie während ihres gemeinsamen Lebens zwischen den Inseln entstanden waren. Da waren Essgerätschaften, Kleidung, Schuhe sogar Möbel, Taschen, Körbe und große Gemälde. In einem riesigen Stapel verschwanden all diese Dinge und wurden vermengt mit unbestimmbarem Müll und Dreck. Auch modernde Pflanzenreste und stinkende Flüssigkeit wurden darauf verteilt. Dann wurde der Haufen wüst umtanzt. Und die Insel vor ihr veränderte stetig weiter ihr Aussehen. Wuchernde Metallranken überzogen die Neonblumen, während die Felsen zu Staub zerfielen und die gestapelten Dinge sich zu bewegen begannen.

Der Hüter, die Fackel noch immer in der linken Hand, schrie ihr zu, sie solle doch schauen, dass endlich seine Insel so sei, wie er sie sich schon immer gewünscht hätte. Endlich würde sie sich in ihrer echten Schönheit entblößen. So brüllte er, während hinter ihm seltsam deformierte Wesen aus dem brennenden Düsterwald hervorkrochen und sich langsam um ihn scharrten. Der Hüter zerrte aus dem künstlichen Haufen, den er kreiert hatte, eine schmutztriefende Krone hervor und setzte sie sich auf die Haare. Er strahlte sie aus seiner zerrissenen Kleidung an und verkündete, endlich sei er der König der Insel, so wie er es schon immer hatte sein wollen und sein Reich wäre endlich vollkommen.

Die Inselhüterin schaute fassungslos zu. Was war geschehen?

Seine Insel, die zugegebenermaßen von den landläufigen Vorstellungen von Harmonie und Schönheit schon immer weit entfernt gewesen war, hatte doch einen sehr eigenen Zauber gehabt, der sich einem oft erst nach langer und geduldiger Beobachtung eröffnete. Auch sie hatte lange Zeit gebraucht die schrulligen Eigenarten als das zu erkennen, was sie waren, eigentümliche Versuche eines Weges in die Welt. Die Seltsamkeiten waren ihr ans Herz gewachsen und hatten ihre Welt bunter und weiter werden lassen.
Doch von dem Zauber war nichts mehr übrig. Die Insel sah aus wie nach geschlagener Schlacht, verwüstete und zerrissen wie ein implodierter Vulkan, dabei sich weiter selbst zu zerstören.

Angstvoll kappte sie die letzte brennende Leine, die beide Inseln noch verband, bevor das Feuer auch auf ihre Insel übergreifen konnte. Da sah sie wie der Derwisch der Nachbarinsel ihr neue, dicke Taue zuwarf. Er gestikulierte ihr, sie solle die Taue auffangen. Doch selbst, wenn sie es gewollt hätte, wäre es ihr nicht möglich gewesen, denn sie glühten. Der Hüter hüpfte und tanzte derweil immer wilder an seinem Ufer, schrie und schimpfte, sie solle sich nicht so anstellen, ein paar größere oder kleinere Verbrennungen hätten noch niemandem geschadet. Was für ein Feigling sie doch sei. Mutig sei sie ja im Übrigen noch nie gewesen. Er gebärdete sich wie toll, schmiss nun Schnüre in alle Richtungen zu allen Inseln in Reichweite. Manche hielten tatsächlich kurz an, erblickten ihre Besitzer doch eine äußerst ungewöhnliche Insel, die vielleicht einen zweiten Blick wert wäre. Doch die meisten trieben verwirrt vorbei.

Die Insel der Hüterin verharrte unerklärlicherweise in gleichbleibendem Abstand. Aber als die Anschuldigungen immer haarsträubender wurden, wandte sie sich endlich ab und erstarrte. Auch ihre eigene Insel war nicht wiederzuerkennen. Dort, wo bis gestern sattes Gras und Wald gestanden hatten, schimmerte plötzlich eine silbriggraue Wasserfläche. Alles war unter dem Wasser begraben worden: Tiere, Kräuter, Blumen, Büsche, nur ein paar Baumwipfel ragten so eben noch aus dem Nass. Sie setzte sich an das neue schmale Ufer und blickte hinunter auf ihr Spiegelbild. Eine alte Frau blickte von dort zurück. Selbst die Kleidung hatte sich verändert, aus ihrem buntgewebten luftigen Kleid war ein matter, unförmiger Lumpen geworden.
Als sie wieder aufschaute, sah sie ihn: Ein einsamer Baum stand noch trocken inmitten ihres Inselmeeres und trug statt Blättern eine einzelne rubinrote Blüte, so weit, so hoch, dass man sie nicht berühren konnte.

Weiteres Geheul ließ sie zusammenzucken. Wieder trafen dicke Taue ihren Inselrand, doch glitten sie schnell hinab und baumelten in die Leere, die sich immer tiefer und breiter zwischen den beiden Inseln auftat. Sie spürte, wie sich endlich die beiden Inseln langsam auseinanderbewegten.
Während sie dasaß und ihr verändertes Spiegelbild bestaunte, fielen ihr all die Male ein, die sie ähnlich dagehockt hatte, den Kopf schwer, alle Gedanken hinausfließend, kraftlos und zum Weinen zu müde, all die wüsten Anschuldigungen sortierend, versucht ihnen Sinn zuzuordnen, der sich aber nicht fand. Sie nahm die fremden Sätze, setzte sie neu zusammen. Es waren wirre Fragmente, die sich teilweise gänzlich widersprachen. Paradoxien, die Kopfschmerz erzeugten. Es schien wie ein Puzzle, bei dem es gar kein entstehendes Bild gab. So sehr sie es auch versuchte, da war nur Wirrnis, die sich auf sie übertrug.

Ruhe und totaler Rückzug ließen Ordnung zurückkehren, zumindest Ordnung der eigenen Gedanken, die wieder einen Anfang und ein Ende bekamen, mit der Welt klangen und Sicherheit gaben.

von Mascha

Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.

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