Angehörige machen Geschichte(n) – Mein Platz auf der Welt

Mein Platz auf der Welt

Ich sitze auf dem Boden, in einer Ecke. Die Beine nah zum Körper gezogen, meine Arme umschließen sie. Ich senke den Kopf. Kleiner kann ich meinen Körper jetzt nicht mehr zusammenfalten. Ich sage kein Wort, ich atme flach, ich frage nichts, ich brauche nichts, bitte duldet mich, wenn es euch nichts ausmacht. Entschuldigung, liebe Welt, dass ich existiere und hier anderen Platz wegnehme.

Das ist ein Teil meines Selbstbildes. Nicht gut, eher dramatisch, ich weiß, aber manchmal muss man auch traurige Wahrheiten aussprechen. Aufgewachsen mit einem psychisch kranken Vater, war mein familiäres System schon zum Zeitpunkt meiner Geburt belastet. Eigentlich: Ausgelastet, denke ich heute. Der ganze Blumenstrauß an Symptomen und Komorbiditäten, den die Persönlichkeitsstörung meines Vaters – damals noch undiagnostiziert – mit sich bringt, brachten meine Eltern als Paar an ihre Grenzen und (über)forderten uns als Familie oft. Meine Bedürfnisse stellte ich hinten an, denn ich merkte: Hier brauchen bereits andere Platz.

Und so begann vor fast 30 Jahren meine Lebensreise als Angehörige. Über die Jahre füllte sich mein Päckchen, mein Rucksack, den ich zu tragen habe. Still und tapfer schleppte ich ihn mit mir herum. Da ich ihn nie ablegte, merkte ich gar nicht, wie schwer er war – ich kannte es schließlich gar nicht ohne Gepäck. Er war wie festgewachsen, wie ein Teil von mir. Irgendwann wurde er zu schwer und zog mich nach unten. Ich konnte nicht mehr weitergehen, jedenfalls nicht alleine. Ich begann eine Psychotherapie und öffne nun mit meiner Therapeutin gemeinsam und behutsam den Rucksack. Vorsichtig, Stück für Stück, schauen wir dort hinein. Manchmal wühlen wir ganz tief unten, manchmal schauen wir ihn nur von außen an. Ich räume ein paar Sachen heraus, der Rucksack wird etwas leichter. Aber viele Sachen hängen fest. Seit Jahren sind die dort drin und haben es sich häuslich eingerichtet.

Ich will den blöden Rucksack ablegen, ich will meine zusammengepferchte Haltung verlassen. Ich möchte meine verkrampfen Arme um meine Knie lösen und die Beine ausstrecken. Langsam richte meinen Oberkörper auf. Ich strecke die Arme zur Seite und nehme mir Raum. Ich hebe den Kopf, schließe die Augen und atme tief ein und aus. Mein Brustkorb hebt und senkt sich, frische Luft strömt in meine Lungen. Meine Lebensgeister erwachen. Ich trete vor die Tür und hinein ins grüne Gras. Die Sonne scheint mit ins Gesicht und der Wind weht mir durchs Haar. Ich mache ein paar vorsichtige Schritte, gehe, werde schneller, laufe, und renne mit einem Mal so schnell ich kann. Ohne Rucksack fühlt es sich an als könnte ich fliegen. Ich fühle, was ich seit langer Zeit nicht fühlte: Sowas wie Leichtigkeit. Träumen wird ja wohl noch erlaubt sein.

Bis es soweit ist, sortiere ich mit meiner Therapeutin weiter meinen Rucksack. Hoffentlich kann ich ihn eines Tages ablegen und im Keller verstauen. Ich vergesse ihn nicht. Ich möchte mich nur selber entscheiden, wann ich ihn bei mir habe.

Für alle Angehörigen. Ihr seid wichtig. Eure Bedürfnisse sind wichtig. Eure Gesundheit ist wichtig. Ihr seid nicht alleine und habt Hilfe und Unterstützung verdient.

von Lara

Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.

Kontakt: kontakt@angehoerige-im-mittelpunkt.de

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