Meine Freundin Maria
Ich erzähle von einer besonderen Freundschaft: Maria ist nunmehr 49 Jahre alt. Wir kennen uns, seit Maria als Säugling in ein Dauerheim eingewiesen wurde, da sie schweren Misshandlungen ausgesetzt war. Unser Verhältnis damals entstand und basierte auf einer rein dienstlichen Beziehung. Ich sah Maria aufwachsen. Ihre Familie kümmerte sich nicht mehr um sie. Ihre Geschwister auch verteilt in Heimen. Sie war ein familiengelöstes Kind, wie es zu DDR-Zeiten hieß. Ausschließlich der Staat kümmerte sich um ihre Entwicklung. Das Kümmern bezog sich auf die Versorgung und Erziehung im ständigen Wechsel der Heimformen und ihrer Betreuer im Schichtdienst.
Vom Säuglingsheim ging es ins Vorschulkinderheim. Danach in ein Heim für Hilfsschulkinder, anschließend in ein Mädchenwohnheim und zum Schluss in eine Einrichtung der Berufsausbildung.
In das selbständige Leben wurde Maria in ihren Heimatort, in eine schön eingerichtete Neubauwohnung, entlassen. Beruflich in eine Werkstatt für behinderte Menschen.
Maria war ein sehr liebes, anhängliches, aber sehr, sehr ängstliches Kind. Gott sei Dank war sie in den vielen verschiedenen Heimaufenthalten meistens an sehr verantwortungsvolle und liebe Betreuer/-innen geraten. Bis heute ist sie in enger Verbundenheit mit einem Erzieherehepaar. Es waren immer nur fremde Menschen, die ihr stückchenweise Aufmerksamkeit zukommen ließen. Aber Liebe und Zuwendung, unerschütterliches Vertrauen, eine Familie, zu der man gehört – all das vermisst sie bis heute. Dieser emotionale Mangel hat die kleine Kinderseele krank gemacht, und das bis heute. Zu ihrem 40. Geburtstag fertigte ich ihr ein Fotobuch an. Das zeigte das ganze Ausmaß ihrer Einsamkeit, wie ich es beschrieben habe. Nur wenige Fotos aus Kindertagen im Heim.
Bis heute ist Maria überängstlich. Sie ist in dauernder psychiatrischer Behandlung. Wir haben uns nie aus den Augen verloren, treffen uns regelmäßig auf eine Tasse Kaffee. Sind persönlich in Verbindung und aus dem Dienstlichen ist eine echte Freundschaft entstanden. Wir sind Vertraute geworden.
Erst vor ein paar Monaten hat sie als Gruppenkoordinatorin eine Selbsthilfegruppe psychisch kranker Menschen übernommen und macht ihre Sache sehr gut. Mit ihrem Lebensalltag kommt sie gut zurecht. Sie wechselte ihren Arbeitsplatz in einen Außenarbeitsplatz, der ihren Interessen und Fähigkeiten entspricht und sie glücklich und zufrieden macht. Während der Coronakrise erhielt sie vom Oberbürgermeister eine Auszeichnung für ihr besonderes Engagement über ihren Arbeitsplatz hinaus. Maria ist ein wunderbares Menschenkind. Unsere persönliche, freundschaftliche Verbindung ist unverbrüchlich. Das stärkt sie und nimmt ihr die Ängste. Ich freue mich darüber.
Schön, dass es Maria gibt!
Ihre beste Freundin Tine
Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.
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