Meine Geschichte beginnt mit einem Vater
der Zeit meines Lebens Alkoholiker war. Als Vertreter des Jg. 1935 gibt es dafür wohl diverse Gründe, aber er hat nie mit mir darüber gesprochen. Meine Mutter war bis zu seinem Tod 2017 klassische Co-Alkoholikerin und sah ihre Lebensaufgabe darin, die heile Familienwelt zu retten, die natürlich nicht zu retten war. Wir zogen 1968 aus Berlin in ein 3000-Seelen-Dorf nach Franken; dort sollte bloß niemand merken, daß Vaddern trank. Meine Mum besorgte sich über meine Oma, die weiterhin in Berlin lebte, bei unserem ehemaligen Hausarzt Rezepte für Tabletten, die seine Alkoholsucht immer für kurze Zeit unterdrückten, so dass er die Woche über arbeiten konnte. Am Wochenende war er oft betrunken; so ging das viele Jahre lang. Mein gut 3 J. älterer Bruder reagierte auf diese Situation mit Rebellion, versuchte auszubrechen und neigt(e) zu relativ extremen Verhaltensweisen. Mit 20 J. zog er ins Rheinland und begann einen sehr wechselhaften Lebenslauf. Er ist innerlich zerrissen und an der Grenze zu einer manisch-depressiven Störung. Er konnte mir als älterer Bruder in meiner Kindheit bzw. Jugend jedenfalls nicht die Orientierung geben, die ich gebraucht hätte.
Dieser Halt war in jenen Zeiten stattdessen meine Mutter, die sich sehr empathisch viel Zeit für mich nahm (mein Bruder tauchte meistens bei Freunden ab), weil sie merkte, wie sehr ich unter dem Alkoholismus meines Vaters litt. Dieser wurde dann wehleidig, antriebslos und stand morgens gar nicht mehr auf. Sie sagte immer, ich wäre sehr sensibel. Durch einen VHS-Vortrag bin ich vor etwa 10 J. erst darauf gekommen, dass ich tatsächlich die Veranlagung der Hochsensibilität mitbekommen habe, wahrscheinlich von meiner Mom. Rückblickend wurde mir auch erst vor kurzem klar, dass ich in meiner Jugend mehrere depressive Episoden durchlebt habe. Mein Psychiater hat mir u.a. eine depressive Störung, chronische Schmerzstörung sowie überdurchschnittliches Schlafbedürfnis bescheinigt. Ich habe auch bereits 3 Hörstürze sowie 2 längere Auszeiten wegen Burnout hinter mir. Nach einem bayerischen 1er-Abitur und 38 erfolgreichen Jahren in der Bankbranche musste ich 2022 in den Vorruhestand gehen. Woher kommt das?
Zum einen sind da natürlich Stress, Arbeitsverdichtung und Digitalisierung im Beruf. Die andere Wahrheit ist aber auch die Belastung seit ca. 50 J. aus meiner Herkunftsfamilie. Wie erwähnt versuchte meine Mutter über die Dauer ihrer Ehe meinen Vater zu stützen und verleugnete dadurch m.E. ihre eigenen Bedürfnisse als Frau und Mensch konsequent. Dies könnte eine Ursache dafür gewesen sein, dass sie im Lauf ihres Lebens Wahnvorstellungen und Angststörungen entwickelte, die viel früher zu einer Paranoia führten, als mir das bewusst wurde. Aber auch sie ist Jg. 1938 und hat in der Kindheit noch Kriegsjahre miterlebt. Ich habe für meinen Teil jedenfalls bereits mit Anfang 20 die Rolle des „Mannes in meiner Herkunftsfamilie“ übernommen und war sozusagen die Co-Stütze zur Co-Alkoholikerin Mutter. Das konnte nicht gut für mich sein, da ich ja meinen eigenen Weg im Leben finden musste; aber es funktionierte einige Jahre. Mit 28 J. lernte ich meine heutige Frau kennen und der Kontakt zu meinen Eltern wurde lockerer. Die Wahnvorstellungen meiner Mom wurden schleichend stärker. Mein Vater arbeitete damals in einem Sanatorium und sie hatte schon in meiner Jugend öfter von Annäherungsversuchen von Ärzten gesprochen. Das ging vom Klinikleiter über den Haus- bis zum Tierarzt, immer waren es Doktoren. Ich dachte mir noch nichts dabei. Nachdem mein Vater u.a. wegen des Alkohols mit 50 J. seinen Job verloren hatte, mussten meine Eltern nach München ziehen, wo er in der Anonymität der Großstadt wieder Arbeit bekam. Dort verschärfte sich vor allem der Verfolgungswahn meiner Mutter deutlich; trotzdem glaubte ich ihr als Sohn zunächst noch die Geschichten von Meldungen im Radio, die verschlüsselt auf sie persönlich bezogen seien, vom BND, der im Haus ggü. sitze und sie überwache usw.. Der Moment, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel, war ein Spaziergang mit dem Hund etwa 1990. Sie hatte mich ein paar Wochen zuvor von München aus in Franken mit dem Auto besucht und war dabei über das Nürnberger Kreuz gefahren. Sie berichtete mir, dass auf der Autobahn plötzlich „lauter Autos mit Kennzeichen N wie Nutte“ unterwegs waren und man ihr damit „etwas zeigen“ wollte. Da wurde mir klar, dass sie ein ernstes Problem hatte.
1991 verbrachte Muttern 10 Tage im BKH Haar. Der renommierte Prof. Bender diagnostizierte damals bereits „Verdacht auf Paranoia“. 1994 zerbrach die Ehe meiner Eltern vorläufig und ich holte meine Mom nach Franken; mein Vater stürzte ab und landete in einer Entzugsklinik, wurde aber schnell rückfällig. Mein Bruder nahm ihn kurz bei sich auf und setzte ihn dann unserer Mutter vor die Tür, die ihn wieder bei sich aufnahm. Da er Rente beantragen konnte war die finanzielle Seite geklärt, ansonsten begannen die Probleme von vorne. Ich hatte zuvor versucht sie zu einer ambulanten Therapie bei einem Oberarzt des hiesigen BKH zu motivieren, die sie aber verweigerte. Auch fast alle anderen Hilfsangebote lehnte meine Mutter konsequent bis vehement ab, vor allem was medizinische Behandlung angeht. Ihr Zustand hat sich in den 30 J. seitdem natürlich deutlich verschlechtert; die Paranoia schreitet fort. Sie hört Stimmen im Telefon, sieht Doppelgänger, glaubt dass ständig jemand in ihrer Wohnung war; verrammelt diese und lässt den Schlüssel von innen stecken; öffnet nicht zu vereinbarten Terminen; vertraut niemandem mehr, auch mir nicht; wollte auch schon mal meinen Ausweis sehen, ob ich wirklich ihr Sohn bin; unterhält sich teilweise mit einer Art Bewegungsmelder im Treppenhaus; nimmt trotz sehr hohem Blutdruck seit 10 J. keine Medikamente; beginnt ihre Biografie umzuschreiben (Tatsachen, die nicht in ihr Weltbild passen, anders dazustellen, als sie wirklich waren) usw.. Wenn ich etwas zu ihr sage, was ihr nicht gefällt, meint sie, ich wäre gar nicht ihr Sohn, sondern ein Doppelgänger und sie müsse die Kripo beauftragen zu ermitteln, wohin man mich verschleppt hätte.
Nachdem ich Dutzende von Arzt- und sonstigen Terminen mit meiner Mutter hatte, zu denen sie entweder gar nicht kam, nicht öffnete, „ausgeflogen“ war, mich versetzte oder die Behandlung schlicht verweigerte, entschloss ich mich im Mai 2023, eine Betreuung für sie zu beantragen. Obwohl eine Betreuungsverfügung für mich vorliegt, forderte ich einen Berufsbetreuer an, weil mich das ewige Hin und Her mit ihr, das sich ja schon über Jahrzehnte erstreckt, einfach zu viel Kraft kostet. Meine eigene psychische Verfassung kommt ja auch nicht von ungefähr. Ein Fremder hat einfach mehr Abstand zu der betreuten Person. Ein medizinischer Sachverständiger erstellte Ende Oktober (!) ein fachärztliches Gutachten, dass ihre schizophrene Paranoia bestätigt und sie als geschäftsunfähig einstuft. Der erste Betreuer, den das Amt vorgeschlagen hat und der mir einen guten Eindruck machte, hat sie so vehement abgelehnt wie alle anderen Vorschläge zuvor auch. Einen zweiten vorgeschlagenen Betreuer, der verbal etwas sanfter mit ihr gesprochen hat, akzeptierte meine Mutter dann etwas überraschend, wobei sie sich vielleicht nicht ganz über dessen künftige Funktion im Klaren war. Im Januar 2024 erging endlich der gerichtliche Betreuungsbeschluss. Es stellte sich aber schnell heraus, dass sie konkrete Maßnahmen oder Unterstützungsversuche ihres Betreuers genauso ablehnte wie bei mir jahrzehntelang vorher. Sie lehnte persönliche Gespräche mit ihm kategorisch ab und bestritt vehement, dass sie überhaupt unter Betreuung stehe. Ihre Post hatte Muttern schon seit Monaten nicht mehr geöffnet. Da sie beim Vorschlag eines Aufenthalts im BKH sofort den Holocaust bzw. die damalige Euthanasie vorbrachte, versuchten wir es mit einem ambulanten Termin bei einem Psychiater, dem sie zustimmte, um der stationären Behandlung zu entgehen. In diesem Arzttermin zeigte sie sich aber derart uneinsichtig, dass dieser gegen Verordnung von Tabletten fast abgebrochen werden musste. Sie hat diese nie eingenommen und natürlich auch einen Pflegedienst, der sie ihr verabreicht, abgelehnt.
Der Gesundheitszustand meiner Mutter ohne regelmäßige ärztliche Begleitung verschlechterte sich mit 85 J. zusehends. Dabei will ich schon deutliche Kritik am Betreuungsrecht in Fällen fehlender Krankheitseinsicht äußern: Kann es sein, dass ein Mensch das Recht auf persönliche Verwahrlosung hat, nur weil keine Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt? Wem tut man damit einen Gefallen? Wir leben gottseidank nicht mehr in Nazideutschland. Jedenfalls verbrachte sie ihre Tage und Nächte überwiegend im Schaukelstuhl ihrer Wohnung im 2. Stock ohne Aufzug, sah und hörte immer schlechter und konnte auch kaum mehr gehen. Wurden ihre Probleme zu groß rief sie bei mir an und wollte weinerlich in die Notambulanz gefahren oder etwas aus der Notapotheke besorgt bekommen, was ich irgendwann ablehnte, wenn sie nicht zu echten Veränderungen bereit sei. So rief sie oft selbst den Notarzt an oder ließ sich in die Notaufnahme des Klinikums fahren. Manchmal ließ sie sich dort stationär aufnehmen, brach den Aufenthalt nach kurzer Zeit aber wieder ab. Im Mai war es wieder mal soweit, nachdem sie erst kurz zuvor eine Woche dort gewesen war. Und da hatte ich das ganz große Glück dass sie ein sehr empathischer Stationsarzt behandelte, der sich viel mehr Zeit für Muttern nahm, als das heute im Gesundheitswesen noch üblich ist. Mit vereinten Kräften schafften wir es tatsächlich, sie wohl mehr dazu zu überreden als davon zu überzeugen, ihre Zustimmung zu einer Verlegung ins BKH zu geben, auch wenn wir dabei nicht alle Karten auf den Tisch legten. Am nächsten Tag wurde sie wirklich auf die geschlossene Abt. Gerontopsychiatrie des BKH verlegt und dadurch, dass ich sie dort jeden 2. Tag besuchte, schaffte ich es auch, dass sie die knapp 4 Wochen durchhielt. Dadurch öffnete sich ein Zeitfenster, dass es mir ermöglichte, für ihre Zeit nach dem BKH ihren Umzug in ein sehr gutes Altenstift vorzubereiten, bei dem ich sie im Frühjahr 2023 bereits auf die Warteliste hatte setzen lassen. Ich habe meine Mom nicht gefragt, ob sie umziehen möchte, sondern das in Abstimmung mit ihrem Betreuer selbst entschieden. Bei einer Rückkehr in ihre alte „Wohnhöhle“ wäre sie sehr schnell in die vorige Verzweiflung abgerutscht und zugrunde gegangen. Im Pflegeheim bekam sie recht schnell Pflegegrad 3, was genug über ihren Zustand aussagt, lebt barrierefrei, wird körperlich gepflegt, hat ärztliche Versorgung, kriegt gesundes Essen und hat Gesellschaft sowie Aktivierung. Zuletzt vereinsamte sie immer mehr; jetzt ist sie auch wieder zugänglicher geworden. Ich besuche sie natürlich jede Woche; wir wohnen nicht weit weg vom Altenstift.
Also Ende gut, alles gut? Nun, nach 30 Jahren Kampf gegen fehlende Krankheitseinsicht hatte ich nicht mehr daran geglaubt, Muttern ins BKH und ärztliche Behandlung zu bekommen; also schon große Erleichterung. Andererseits hat dieser Kampf in einer schwierigen Herkunftsfamilie über so lange Zeit viel Kraft gekostet und seine Spuren hinterlassen, denn ich war ja 38 J. lang auch voll berufstätig. Darüber bin ich selbst krank geworden. Aber hätte ich damit leben können, meine Mutter eher „loszulassen“? Sie zugrunde gehen zu sehen? Ich bin angeschlagen, aber mit mir im Reinen.
von „A simple man“
Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.
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