Nur mit dir sind wir komplett
Bei der äußeren Wendung tratst du nach den Händen der Oberärztin und drehtest dich in der darauffolgenden Nacht wieder zurück.
Die Hebamme wusste es: „Der wird immer seinen eigenen Kopf haben.“
Genau am errechneten Geburtstermin kamst du auf die Welt. Deine Beine hattest du lang nach oben ausgestreckt und konntest deshalb spontan geboren werden. Den Tag zuvor waren wir noch mit dem Fahrrad in die Stadt gefahren, um einen Kinderwagen auszusuchen.
Wenn die werdende Mutter sich in der Schwangerschaft viel bewegt, wird das Baby ein kontaktfreudiger Mensch. Ja, stimmt.
Du standest im Schuhgeschäft vor dem Regal, legtest den Kopf in den Nacken und wähltest mit ausgestrecktem Arm dein erstes Paar Schuhe aus.
Du konntest zunächst stehen und erst viele Wochen später beim ersten ökumenischen Kirchentag in Berlin machtest du deine ersten freien Schritte.
Du konntest noch nicht viel sprechen, Automarken gehörten allerdings bereits zu deinem kleinen, aktiven Wortschatz und du konntest die Autos anhand ihrer Logos auseinander halten.
Erst durch unseren Hinweis nach ein paar Wochen in der 1. Klasse bist du drauf gekommen, dass deine Lehrerin die Chefin in der Klasse ist. Du hattest unaufgefordert auf alles, was sie gerade zuvor geäußert hatte, einen Reim gesagt und verbrachtest den Rest der Schulstunde in einer Parallelklasse.
Du suchst deine Grenzen. Nach einer Viertelstunde Schulunterricht gucktest du nur noch aus dem Fenster. Hausaufgaben sind kein zwangloser Vorschlag für eine Beschäftigung am Nachmittag, sondern eine Tätigkeit, die von dir erwartet wird!
Auf dem Waldspielplatz ließen dich Kinder mitspielen. Nachdem die gegangen waren, stelltest du dich bei den Neuankömmlingen als Chef vor und erklärtest ihnen, wie gespielt wird. Du siehst alles.
Nur im Kindergottesdienst und beim Klavierunterricht hörten wir, du könntest ruhig ein bisschen mehr aus dir heraus gehen.
Deinen Taufpsalm wähltest du als Konfirmationsspruch aus.
Langeweile ist nichts für dich.
Dein feiner Humor kommt gut an.
Die delf-Prüfung bestandest du mit 92%.
Du wolltest Pilot werden.
Wer dich zum Freund hat, hat einen Freund fürs Leben.
Du lieber Himmel, welche Typen nanntest du deine Freunde und wolltest sie nicht enttäuschen! Wir waren leider abgemeldet.
In einem Sommer mitten in der Nacht rief ein Beamter der PI an und fragte, ob wir wissen, wo du bist. „Hm? In seinem Bett! Nein? Ok, ich gucke nach.“
Ein psychotischer Zustand hielt dich nie lange vom nächsten Konsumieren ab.
Durch die Besucherscheibe in der Untersuchungshaft tröstetest du uns: „Es gibt Schlimmeres.“
Mit dir immer auf und ab – und endlich raus aus dieser Co-Abhängigkeit!
Du hast ein Auge für Schönes und ziehst dich gern gut an.
Heute sind deine Medikamente ganz gut eingestellt nach psychotischem Erleben und Panikattacken.
Wir können dir nichts abnehmen, nur für dich da sein und genießen unser gutes Miteinander.
Du bist uns lieber Sohn und lieber Bruder.
von Ernestine
Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.
Kontakt: kontakt@angehoerige-im-mittelpunkt.de
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