Angehörige machen Geschichte(n) – Private Odyssee

Private Odyssee

Meine Große war mittlerweile fast 10, ein tolles Mädchen. Der Wunsch nach einem 2. Kind blieb. Dann war ich tatsächlich schwanger, etwas überraschend, aber willkommen. Ich wünschte mir noch eine Tochter, nein, ich war mir sicher, dass ich wieder so ein süßes blondes Mädchen bekommen würde.

Ich war schon 35, meine Frauenärztin empfahl eine Fruchtwasseruntersuchung, ich willigte ein. Auf dem Monitor sah man, wie durch die Nadel das Fruchtwasser entnommen wurde, mein Baby verkroch sich in die hinterste Ecke der Fruchtblase. „Kluges Kind, gute Instinkte!“ scherzte der Arzt.

Nach 14 Tagen dann das Ergebnis: Es handelt sich um einen gesunden männlichen Embryo. Der Vater freute sich, ich war für eine Sekunde geschockt, doch es war klar, ab diesem Zeitpunkt freute ich mich auf meinen Sohn.

Die Schwangerschaft verlief gut, aber da es bei der ersten Entbindung Komplikationen gab, wurde es diesmal ein geplanter Kaiserschnitt. Mein Sohn wurde aus mir herausgehoben und schrie sich die Seele aus dem Leib. Die Schwester hielt seine kleine Wange an meine Wange, ich begrüßte ihn, und er beruhigte sich sofort. Ab diesem Moment liebte ich ihn genauso sehr wie meine Große.

Als mein Sohn 6 Monate alt war, verließ uns sein Vater, ging freiwillig in eine Klinik, Burnout. Da wir nicht verheiratet waren, wurde mir nie eine differenzierte Diagnose mitgeteilt. Das Baby entwickelte sich trotzdem prächtig, war sehr auf mich fixiert, was unter diesen Umständen mehr als normal erschien. Seine große Schwester kümmerte sich rührend um ihr Brüderchen.

Als mein Sohn ein Jahr alt war, wollte ich vormittags wieder arbeiten, aber auch nach drei Monaten konnte er sich bei seiner sehr liebevollen Tagesmutter nicht einleben, sie konnte ihn nicht betreuen, da waren noch drei weitere Kinder. Ich musste wieder zu Hause bleiben.

Als er 2 ¾ war, startete ich den zweiten Versuch. Wir bekamen einen Kitaplatz mit Mittagessen und Mittagsschlaf. Seine Sprachentwicklung war auffällig gut, und er spielte gerne mit älteren Kindern, solange ich in Sichtweite war. Aber er weinte auch in der Kita. Und verweigerte täglich das Essen mit den Worten „Meine Mama kocht für mich.“ Täglich holte ich ein weinendes Kind ab, das Bäuchlein knurrte vor Hunger. Die Erzieherin meinte, ein Kind würde nicht freiwillig verhungern, wir bräuchten nur ein paar Wochen Geduld. Aber nein, er weinte und er aß dort nicht. Nach drei stressigen Monaten kündigte ich den neuen Job, änderte den Kitaplatz auf morgens 3 Stunden und blieb zu Hause.

Das Kind entwickelte sich gut, war auffällig klug, konnte mit drei seinen Namen schreiben. Kein Wunder, dachte ich, bei der tollen großen Schwester, die sich viel und liebevoll mit ihm befasst.

In der Grundschule kam er gut klar, hatte viele Freunde und war ständig zum Spielen verabredet. Auffällig war, dass er Schwierigkeiten hatte, eine Situation zu verlassen, z. B. „Wir müssen gleich los, zieh dich bitte an“ oder „Bitte räumt die Spielsachen weg, dein Freund wird gleich abgeholt“ waren schwierige Momente, er bockte, teilweise weigerte er sich, es war nichts zu machen. Sogar wenn er sich auf eine Aktivität gefreut hatte, war der Moment des Aufbruchs ein wahrer Albtraum. Spontan etwas zu unternehmen oder nur auf dem Weg noch kurz in den Supermarkt springen, war nicht möglich. Ich sprach mit unserem Kinderarzt, äußerte Vermutungen, aber ich lag wohl falsch.

Der Lernstoff des 1. Schuljahrs fiel ihm zu leicht. Ich sprach die Lehrerin an, ob er vielleicht gleich ins 2. Schuljahr wechseln sollte, aber sie meinte, er sei so gut in der Klassengruppe integriert, sie würde schon aufpassen, dass er nicht unterfordert sei. Ich vertraute der erfahrenen Pädagogin. Er bekam in jedem Fach Extraaufgaben für das 2. oder 3. Schuljahr, um ihn ruhig zu halten, denn wer sich langweilt, macht Blödsinn und stört die Mitschüler.
Nach vier Grundschuljahren wechselte ein glücklicher Junge aufs Gymnasium. Er hatte Freunde, ging zum Sport, spielte Schlagzeug. Aber bereits im 5. Schuljahr sprach er von diffusen Ängsten, ich
musste beim Einschlafen wieder bei ihm bleiben. Nach einiger Zeit begann eine Gesprächstherapie, fast zwei Jahre ging er einmal pro Woche zu einer netten jungen Therapeutin. Im Elterngespräch äußerte ich meine Vermutungen, bekam aber zur Antwort, aber es sei alles gut.

Mein Sohn war 14 als er mir sagte, er komme mit seinem Leben nicht mehr klar. Nichts Genaues. Aber wer sagt so etwas mit 14? Ich dachte an den Zusammenbruch seines Vaters und sofort machte ich einen Termin bei einem renommierten Jugendpsychiater im Kreis Gießen. Er sprach lange mit ihm, danach die Einschätzung: „Alles ok, ihr Sohn ist lediglich reifer als seine Altersgenossen, das wird sich in den nächsten Jahren angleichen, aber ich würde ihn gerne auf Hochbegabung testen.“

    Ich war beruhigt, er war der Fachmann, auch mit diesem Kind würde ich die Pubertät durchstehen. Der Test bestätigte die Hochbegabung, ich war stolz auf meinen schlauen Sohn.
    Im 9. Schuljahr blieb er morgens im Bett, völlig verängstigt, ohne genaue Gründe. Er konnte nicht mehr Busfahren, verweigerte die Schule, nur mit großem Druck und Streitereien schleppte ich ihn von Arzt zu Arzt, von einer Psychotherapie zur nächsten. Er wurde häufig frech zu mir, war aufbrausend, aber immerhin gab er nicht auf. Mit 16 war er zehn Wochen in einer Psychiatrischen Klinik für Jugendliche. Diffuse Vermutungen, Verdacht auf Depression, mehrere Antidepressiva wurden im Laufe der Jahre getestet. Er blieb ein Jahr im Bett, dann begannen drei Jahre Psychoanalyse. Mittlerweile war er volljährig, ich bekam keine Infos. Ich wusste nur, mein Sohn ist depressiv. Aber zwischenzeitlich ging es ihm auch mal mehrere Wochen ganz gut, ein ständiges Auf und Ab. Ich war besorgt, überfordert und traurig, begann selbst eine Gesprächstherapie.

    2019 zog er ins Schulwohnheim nach Weilburg, wollte dort 2 Jahre an die Technikakademie. Ziel: schulische Ausbildung und Fachabi. Er kam nur am Wochenende nach Hause, der Abstand war gut für uns beide. Er verliebte sich dort in eine Mitschülerin, wirkte glücklicher. Dann kam Corona, die Schule wurde geschlossen, er kam nach Hause, konnte seine Partnerin nicht treffen. Er wurde nicht zum Fachabi zugelassen, brach wieder zusammen. Aber die Beziehung hielt. Nach einem Jahr Partnerschaft bekam ich die Info, dass seine Freundin trans sei, sie habe sich bereits für die Hormontherapie angemeldet. Sein Partner machte meinen Sohn sehr glücklich.

    2023 schaffte er das Fachabi an einer Gießener Berufsschule, mit super vielen Fehlzeiten, aber die Lehrer erkannten sein Potential. Danach wollte er Zitat „erstmal gesund werden“, meldete sich in Tageskliniken an, aber so was dauert bekanntlich ewig. Er setzte das Antidepressivum auf eigenen Wunsch ab. Arbeiten oder studieren war nicht möglich. Seine Fernbeziehung bestand schon 3 Jahre, die beiden hatten sich verlobt. Ich war nicht begeistert, dass er das geplante Studium nicht begann, wir stritten häufig. Bei Gesprächen über seine Zukunft machte er zu, er sei schließlich krank.

    Im Februar 2024 kam ich von einem Kurzurlaub abends nach Hause. Mein Sohn war wie im Schock, sein Partner hatte am Telefon Schluss gemacht. Wir redeten ganz kurz, nach vielen Jahren sah ich ihn mal wieder weinen, dann sah ich Blut, er hatte sich geritzt. Um 23 Uhr fuhr ich mein Kind in die Uniklinik Gießen, geschlossene Station, Suizidgefahr. Er kam auf eine offene Station, blieb dort stationär 4 ½ Monate, Diagnose: Burnout, Autismus und ADS. Ich erinnerte mich an meine Vermutungen, die von mehreren Fachleuten als unbegründet abgetan worden waren. Während des ganzen Aufenthalts hat er NULL Mahlzeiten zu sich genommen, ich habe ihn komplett von außen versorgt – hat jedoch in der Klinik leider niemanden interessiert. Kurzzeitig hoffte ich auf Besserung, aber mittlerweile geht es ihm wieder sehr schlecht. Hätte ich gewusst, wie krank er ist, hätte ich nicht jahrelang so viel geschimpft. Mein Kind ist so unglücklich, es bricht mir das Herz.

    Vor einiger Zeit outete er sich, er sei trans, möchte ab sofort als Frau gelesen werden. Wieder war ich für eine Sekunde geschockt. Nun habe ich meine zweite Tochter und liebe sie unverändert. Und ich vermisse meinen Sohn. Die Zukunft ist ungewiss, das Leben bleibt voller Herausforderungen.

    von Katharina

    Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.

    Kontakt: kontakt@angehoerige-im-mittelpunkt.de

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