Angehörige machen Geschichte(n) – Sorge, Zweifel, Kampf

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Sorge, Zweifel, Kampf

Es war ein schleichender Prozess, die Verhaltensveränderungen unseres Sohnes. Verspätete Pubertät? Psychose, sagte sein bester Freund. Er habe sich im Internet schlau gemacht und unserem Sohn angeboten, ihn zu einem Termin beim Sozialpsychiatrischen Dienst zu begleiten. Unser Sohn kündigte ihm die Freundschaft.

Meine erste Anlaufstelle war unser Hausarzt, der den Besuch einer Drogenberatungsstelle empfahl. Ich rief dort an, um einen Termin zu vereinbaren, wurde aber abgewiesen. Unser Sohn sei volljährig und man hätte schon genug mit den minderjährigen Abhängigen zu tun. Außerdem, sollte unser Sohn tatsächlich ein Drogenproblem haben, müsse er selbst dies ändern wollen, ansonsten mache eine Beratung sowieso keinen Sinn.

Ich beschrieb die Situation einem Mitarbeiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes. Als dieser in Begleitung einer Kollegin zu einem Hausbesuch bei uns erschien, verweigerte unser Sohn das Gespräch. Da konnte man nichts machen. Aber ich bekam das Angebot, die Beratung als Angehörige zu nutzen und in Kontakt zu bleiben.

Die vergangenen Monate waren sorgenvoll und nervenaufreibend gewesen, aber der Stress ging nun erst richtig los. Das Thema Schule hatte sich erledigt. Das Verhalten unseres Sohnes wurde immer merkwürdiger, was er erzählte, beunruhigend. War unser Sohn ‚nur‘ verrückt geworden? Hatte er ein Drogenproblem? War er womöglich in kriminelle Machenschaften
verwickelt? Als er uns angstvoll mitteilte, für einige Zeit untertauchen zu müssen, da er bedroht würde, boten wir Eltern an, gemeinsam mit ihm zur Polizei oder zu einer psychiatrischen Klinik zu fahren. „Egal wofür du dich entscheidest und was dabei am Ende herauskommt, wir sind für dich da.“, versprachen wir ihm. Unser Sohn hielt an seiner Überzeugung, Flucht sei für ihn die einzige Möglichkeit, fest. Da er nicht wusste wohin, verkroch er sich in seinem Zimmer.

Ich hatte die Hoffnung, eine Anzeige würde für Klarheit sorgen. Mit der Probe eines weißen Pulvers, welches ich auf dem Schreibtisch unseres Sohnes gesehen hatte, und einer Schusswaffe, die unter seiner Schmutzwäsche lag, wurde ich bei der nächsten Polizeiwache vorstellig. Beides stellte sich als harmlos heraus. Aber die von unserem Sohn erhaltenen Informationen waren für die Beamten von Interesse. Tatsächlich stand eine der von mir
genannten Personen bereits unter Beobachtung wegen des Verdachts auf Handel mit illegalen Drogen. Wie sich später nach und nach herausstellte, war das, was unser Sohn damals und in den folgenden Monaten erzählte, eine Mischung aus Tatsachen und psychotischem Erleben. Als ich unserem Sohn von meinem Gespräch bei der Polizei berichtete, geriet er in Panik und schrie mich an, mit diesen Leuten sei nicht zu spaßen und ich hätte uns alle in Lebensgefahr gebracht.

Einmal gelang es mir, unseren Sohn mitten in der Nacht davon zu überzeugen, seine Gedanken und Ängste einem Arzt anzuvertrauen. Wenige Tage zuvor hatte ich ein ermutigendes Telefonat mit einer Mitarbeiterin der örtlichen psychiatrischen Klinik. „Bleiben sie dran, geben sie nicht auf.“, hatte diese mich motiviert und gemeint, ich könne jederzeit, auch nachts, ohne Voranmeldung mit unserem Sohn in die Klinikaufnahme kommen. Dieses
Angebot nahm ich nun wahr.

Der Mitarbeiter in der Aufnahme versuchte, mich auf den nächsten Tag zu vertrösten; die Ärzte hätten bereits einen anstrengenden Tag hinter sich, er wolle sie nicht aufwecken. Während ich leise die Dringlichkeit jetzt ein Gespräch zu erhalten erklärte, hatte ich die ganze Zeit Sorge, unser in der Nähe im Wartebereich sitzender Sohn würde es sich jeden Moment anders überlegen. Zwei Nachtschicht habende Ärzte gaben sich eine Stunde lang alle Mühe, unseren Sohn von einem Klinikaufenthalt zu überzeugen, vergeblich. Zumindest nahm er eine angebotene Tablette ein und sagte zu, sich am nächsten Tag einen Psychiater suchen zu wollen. Ein leeres Versprechen.

Während meine Kollegen sich auf den Feierabend freuten, war ich froh über die Stunden, die ich im Büro verbringen konnte, wo mich die Arbeit von den häuslichen Problemen ablenkte. Die Atmosphäre zuhause war angespannt. Mein Sohn verfolgte mich mit Blicken, die ich nicht deuten konnte. Sprach ich ihn an, kamen seine Antworten verzögert, als hätte er mich nicht verstanden. Manchmal sagte er gar nichts, schaute mich nur zweifelnd oder böse an. Oft passte seine Reaktion überhaupt nicht zu dem, was ich gesagt hatte. Die Erklärung dafür erfuhr ich nach seiner zwangsweisen Einlieferung in die Psychiatrie durch die Polizei. Die hatte ich in einer mir bedrohlich erscheinenden Situation gerufen. Unser Sohn hatte den Wahn entwickelt, gegen ihn sei eine Verschwörung im Gange, in der auch sein einstiger bester Freund und ich eine Rolle spielten.

Das ist fast fünfundzwanzig Jahre her. Wie viele ungewollte Psychiatrieaufenthalte diesem ersten im Laufe der Jahre folgten, kann ich nicht mehr sagen. Im Gedächtnis geblieben sind lediglich einzelne Episoden. Mit der Diagnose ‚psychisch krank‘ gingen wir ganz unterschiedlich um. Unser Sohn fand sie für sich unzutreffend und lehnte die verordneten
Medikamente daher logischerweise ab. Für uns Eltern war sie eine Handlungsgrundlage: Eine Erkrankung wurde diagnostiziert. Es gibt eine Behandlungsmöglichkeit. Die sollte von unserem Sohn genutzt werden, um möglichst schnell wieder in den ‚Normalmodus‘ zu kommen. Schließlich ging es um seine Zukunft. Diese gegensätzlichen Sichtweisen sorgten
zwangsläufig für Reibereien, die zeitweise in einen regelrechten Kleinkrieg ausarteten.
Es war unmöglich, das Verhalten unseres Sohnes einzuschätzen. Streckenweise verbrachte er viel Zeit im Bett, kümmerte sich um nichts. Aus Faulheit? Vor Erschöpfung? Dann wieder lief er zur Hochform auf, wirkte überdreht, startete unrealistische Vorhaben. Wir waren in ständiger Anspannung. Unser Sohn ging auf totalen Konfrontationskurs, provozierte, wo er eine Möglichkeit dazu sah. Das war auf Dauer nicht auszuhalten. Unsere Forderung an ihn lautete: Entweder verlässliche psychiatrische Behandlung oder Auszug.

Es war der Auftakt zu einem harten Kampf ums Bleiberecht mit wiederholter Einschaltung der Polizei. Die Beamten traten immer ruhig und besonnen auf, wirkten geschult für heikle Situationen. Einmal gelang es der wortführenden Polizistin, unseren Sohn zu einer Vorstellung in der Psychiatrie zu bewegen. Allerdings unter seiner Bedingung, dass auch ich untersucht werde, denn schließlich sei ich, seine Mutter, die Verrückte. In der Klinik sah man das anders und er musste gegen seinen Willen bleiben. Unser Sohn, Anfang zwanzig, war der Überzeugung, sich das Haus, in dem wir wohnten, in über dreißig Jahren Berufsleben erarbeitet zu haben. Warum also sollte er das Feld räumen? Seine Wahnidee überdauerte den Psychiatrieaufenthalt.
Wir Eltern holten uns juristischen Rat. Unseren erwachsenen Sohn auf ‚geordnete‘ Art und Weise anderweitig unterzubringen wurde als mindestens schwierig, auf jeden Fall langwierig, angesehen. Wir setzten unserem Sohn eine Frist zum Auszug. Nachdem er diese untätig hatte verstreichen lassen, nahm mein Mann ihm die Haustürschlüssel ab und tauschte das Türschloss aus, so wie wir es angekündigt hatten. Nach einem Gang zum Zigarettenautomaten gab es für unseren Sohn kein Zurück ins Haus. Er hatte die EC-Karte für sein Girokonto mit überschaubarem Guthaben dabei. Außerdem hatte ich ihm im Vorfeld Anlaufstellen und Ansprechpartner genannt, an die er sich in dieser erwartbaren Lage wenden konnte.

Die folgenden Tage waren für alle Beteiligten extrem belastend. Nach einer Woche ‚Straßenluft‘ ließ sich unser Sohn von meiner Mutter zur Psychiatrischen Klinik fahren und bat dort um Aufnahme. Mit der Ansage, man sei kein Hotel, in das er flüchten könnte, wenn er zuhause rausgeschmissen worden sei und dem Hinweis, die Aufnahme sei an seine Bereitschaft zur Einnahme von Neuroleptika gebunden, wurde er dort Patient. Als seine Entlassung anstand, ließ ich ihn eine Vereinbarung unterschreiben, unter welchen Bedingungen er wieder zuhause einziehen kann. Echt jetzt, wollte er grinsend wissen, als ich ihm das Papier in der Cafeteria der Klinik zur Unterschrift reichte. Echt jetzt, bestätigte ich ernst.

Während unser Sohn seine Wahnideen auslebte, war ich aktiv geworden. Ich arbeitete mich durch einen medizinischen Wälzer, den ich in der Stadtbibliothek hatte ausleihen können. Der klärte über die Entstehung und Behandlung von Psychosen auf. Das Buch lieferte eine Menge an Informationen und die für uns Eltern unbefriedigende Aussage, über den
Verlauf der Erkrankung ließe sich erst nach Ableben des Patienten etwas Verbindliches sagen.
Ich suchte weiter nach einem sicheren Rezept gegen den Wahn: in Büchern, in Beratungseinrichtungen, in Gesprächskreisen. Je mehr ich erfuhr, umso ratloser wurde ich. Zu jeder Hypothese über die Entstehung psychischer Erkrankung und den Weg wieder heraus fand sich eine Gegenmeinung. Immerhin bekam ich Erklärungen zu manchen eigenartigen
Verhaltensweisen unseres Sohnes, die auch unter anderen Betroffenen weit verbreitet scheinen. So soll beispielsweise das Tragen einer Kopfbedeckung vor der Eingabe fremder Gedanken schützen. Darum also trug unser Sohn auf einmal selbst im Haus eine Kappe. Ich stellte fest: Im Rahmen seiner Verrücktheit verhielt sich unser Sohn ganz normal. Ein wahres Aha-Erlebnis brachte der Film ‚Das weiße Rauschen‘, den ich auf DVD gekauft hatte. Das Verhalten des Protagonisten, der eine paranoide Schizophrenie entwickelt, erinnerte an unseren Sohn und erklärte sein psychotisches Erleben sehr gut.

Ich wurde Mitglied einer Angehörigenselbsthilfegruppe, die diese Bezeichnung nicht wirklich verdiente. Sie wurde von uns Müttern dominiert, denen es vorrangig darum ging, die eigenen Kinder wieder ‚funktionstüchtig‘ für ein normales Leben mit Beruf und Familie, wie man es sich halt so vorstellt, zu machen. Hin und wieder fiel einer von uns auf, dass wir wieder einmal die ganze Zeit nur über unsere kranken Kinder geredet hatten, anstatt uns Gedanken zu machen, was wir uns selbst Gutes tun könnten. Als sich die Gruppe nach gut drei Jahren aus organisatorischen Gründen auflöste, blieb ich mit zwei der Frauen in Kontakt.

Große Bedeutung bekam für mich die regelmäßige Teilnahme am örtlich angebotenem Psychoseseminar; einer Veranstaltung, in der Psychiatrie erfahrene Menschen, Angehörige von solchen und beruflich im Bereich Psychiatrie Tätige sich auf Augenhöhe austauschen können.
Ein Mann mittleren Alters erzählte in diesem Kreis, seine Mutter lese weder Bücher über Schizophrenie, noch habe sie jemals Gespräche mit seinen Ärzten geführt. Sie sei einfach nur seine Mutter und dafür sei er ihr dankbar. Für seine Gesundheit trage er selbst die Verantwortung. Dies war ein Anstoß, mein eigenes Handeln zu überdenken. Für mich war es ohne Zweifel notwendig gewesen, in den Wahn unseres Sohnes per Zwang
einzugreifen. Und hatte ich als Mutter, da ihm selbst die Krankheitseinsicht fehlte, nicht dafür zu sorgen, dass er alles tat, um wieder gesund zu werden? Die ihm aufgezwungenen Medikamente zeigten Wirkung, positive wie auch negative Nebenwirkungen. Aber war er tatsächlich komplett gegen deren Einnahme? Er hatte unseren Hausarzt gefragt, ob er ihm die Tabletten verschreiben könnte, was der verneinte. Lehnte unser Sohn eher das Etikett ‘psychisch krank‘ als die Behandlung selbst ab? Meine Vorgaben, was er zu tun und zu lassen hat in seiner Lage, hatten erneute Klinikaufenthalte nicht verhindert. Hatte der von mir ausgeübte Druck sie vielleicht sogar befördert?

Auf der Suche nach einem Schuldigen an seiner Situation hatte unser Sohn unter anderem seinen ehemals besten Freund ausgemacht, da der ihn mit Drogen in Kontakt gebracht hatte. Mir warf er vor, durch eine falsche Erziehung seine verminderte Widerstandskraft gegen die Herausforderungen des Lebens verursacht zu haben. Es dauerte lange, bis ich darauf antworten konnte, dass es mir leidtäte, wenn dem so sei. Dass ich es so gut gemacht hä􀆩e, wie ich es zum jeweiligen Zeitpunkt konnte. Dass wir die Vergangenheit nicht ändern können. Dass die Zuständigkeit für seine Zukunft bei ihm läge.
Aber hate ich die Verantwortung dann wirklich an ihn abgegeben? Ich fasste den Vorsatz, mich zukünftig zurückzunehmen. Unser Verhältnis zueinander entspannte sich. Einmal kam ich in das Zimmer unseres Sohnes, als er gerade lachend vor seinem Fernseher stand. Es lief die US-Sitcom ‚Eine schrecklich nette Familie‘. Was ihn erheiterte war allerdings kein Gag der Serien-Hauptfigur Al Bundy gewesen. Nein, er hatte einen Moment lang geglaubt, selbst Al Bundy zu sein. Ist das nicht bescheuert, fragte er belustigt rein rhetorisch. Obwohl ich keine Ahnung hatte, wie es sich anfühlt, jemand anderes zu sein, steckte mich sein Lachen an. Unser Sohn hatte eine gute Phase. Was allerdings nicht Symptomfreiheit bedeutete. Wie belastend muss es sein, seinen eigenen Gedanken und Wahrnehmungen nicht trauen zu können, ging es mir durch den Kopf, als er beim gemeinsamen Kochen von mir wissen wollte, ob ich das Geräusch auch höre. Meinst du den Krankenwagen? Ja, ich dachte schon, nur ich höre das, war er erleichtert.
Der Mitarbeiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes, zu dem ich in losem Kontakt war, schlug vor, für unseren Sohn eine eigene Wohnung zu suchen. Auch behinderte Kinder sollten sich irgendwann von den Eltern abnabeln. Meinen Mann und mich überzeugten seine Argumente. Die Frage, wer sich nach unserem Tod um unseren Sohn kümmern würde, beschäftigte uns immer wieder. Früher hatte ich kein Verständnis für Menschen, die einen erweiterten Suizid begingen, weil sie mit der Pflege eines Angehörigen überfordert waren und diesen nicht allein zurücklassen wollten. Auch wenn das für mich nie eine Option wäre, konnte ich eine solche Entscheidung mittlerweile nachvollziehen.

Wir Eltern fanden es richtig, unserem Sohn zu ermöglichen, sich darin zu üben, trotz psychischer Beeinträchtigung einen eigenen Haushalt zu führen. Beim Sozialpsychiatrischen Dienst als Mensch mit Unterstützungsbedarf bekannt und beim Sozialamt als Leistungsempfänger geführt, also im Hilfesystem erfasst zu sein, versprach Sicherheit für ihn, falls uns Eltern etwas zustoßen sollte. Unser Sohn reagierte erschreckt auf die Pläne. Ich hab doch nur noch euch. Ich werde in einer eigenen Wohnung vereinsamen. Neue Freunde zu finden, erschien ihm unmöglich. Meinen Rat, sich anderen Betroffenrn anzuschließen, Freizeitangebote für psychisch erkrankte Menschen wahrzunehmen, lehnte er rigoros ab. Er wolle keine bekloppten Freunde. Wir Eltern blieben bei unserer Entscheidung.

Eine passende Bleibe in unserer Nähe zu finden war schwierig. Am Ende kauften wir eine kleine Wohnung. Da wir unseren Sohn in die Suche mit einbezogen und gemeinsam die Renovierung in Angriff genommen hatten, glaubte ich, er hätte sich nun doch mit dem Gedanken auszuziehen angefreundet. Als ich während der Streicharbeiten fragte, in welchem Farbton die Wohnzimmerwände gestrichen werden sollen, zuckte er mit den Schultern: Dir muss es gefallen. Schließlich wirst du hier wohnen.
Trotz dieses Irrtums ging der Umzug ohne Probleme über die Bühne. Eine Betreuung lehnte unser Sohn ab. Mit dem Argument, auch wir Eltern holten uns für manche Angelegenheiten fachkundige Unterstützung, hatten wir bei ihm dafür geworben. Dass ich einmal wöchentlich nach Büroschluss zu ihm kam, um mit ihm gemeinsam einzukaufen, zu kochen und die Hausarbeit zu erledigen, nervte ihn. Das gleiche Angebot von meiner Mutter nahm er gerne an. Die beiden hatten von je her eine enge Beziehung zueinander. Nimm ’s mir nicht übel Mama, aber Oma ist mir die Liebste, lächelte er.

Unser Sohn war mittlerweile siebenundzwanzig Jahre alt. Er wurde zum Drehtürpatienten. Im Glauben, er habe das Haus mit den sieben Wohneinheiten gekauft, fühlte er sich für ‚sein‘ Eigentum verantwortlich und werkelte zum Missfallen der anderen Bewohner an der Heizungsanlage und diversen elektrischen Installationen herum. Mit fortschreitendem Wahn ‚arbeitete‘ er mit Wasser. Kein Behältnis, keine Schublade, in der nicht das Wasser stand. Selbst seine Schuhe waren damit bis zum Rand gefüllt. Er verursachte einen Wasserschaden in seiner und der unter ihm liegenden Wohnung, als er seine sämtlichen Elektrogeräte in der Badewanne einweichte. Die Schäden waren beachtlich.

Unser Sohn erhielt einen rechtlichen Betreuer und das Angebot, in ein Wohnheim zu ziehen. Wir Eltern waren dafür, wollten das aber nicht gegen seinen Willen durchsetzen. Bitte gebt mich nicht in ein Heim, hatte er mich nach einem früheren Psychiatrieaufenthalt angefleht. Über den Vorschlag, eine Tagesstätte in seiner Nähe zu besuchen, dachte er ernsthaft nach. Allerdings konnte man sich nicht einzelne Angebote des Programms herauspicken. Eine Anmeldung war nur für die komplette Woche und den ganzen Tag möglich. Das war ihm zu viel. Möglicherweise verschreckte ihn auch die Außendarstellung der Tageseinrichtung, die in großen Buchstaben gut und weit sichtbar darauf aufmerksam machte, dass es sich hier um einen Ort für psychisch Erkranke handelt. Texte in einem Schaufenster beschrieben die Besucher der Einrichtung als hilfsbedürftige Menschen, die hier Anleitung und Unterstützung erfahren. Auf Fotos sah man überwiegend ältere Leute bei gemeinsamen Spielen und Bastelarbeiten. An eine Ausbildung war für unseren Sohn nicht zu denken. Während seiner ersten Klinikaufenthalte nahm er öfters an der Arbeitstherapie teil. Da er sich in der Werkstatt geschickt anstellte, unterbreitete man ihm das Angebot, auch nach seiner Entlassung weiterhin dort tätig zu sein. Hatte er sich kurz vorher noch über das Lob des Werkstattleiters gefreut, schlug seine Stimmung in Empörung um. Gegen die Langeweile und um sich etwas Taschengeld dazuzuverdienen, fand er die Arbeit in einer Behindertenwerkstatt in Ordnung. Dass das mit Anfang Zwanzig seine berufliche Perspektive sein sollte, war dagegen inakzeptabel für ihn.

Zu Beginn seiner Erkrankung waren wir sehr ungeduldig mit unserem Sohn und sahen in jedem Hilfsangebot eine Chance für ihn, die er unbedingt ergreifen sollte. In der Psychiatrie Tätige warben bei uns um Verständnis für ihn, wenn er sich Maßnahmen egal welcher Art, verweigerte. Das müsse ein junger Mensch erst einmal mit seinem Selbstbild überein bekommen, psychisch krank zu sein. Mit der Zeit verstanden wir unseren Sohn besser, der sich nicht den Stempel ‚psychisch krank’ aufdrücken lassen wollte. Nun waren es die Profis, die die Geduld verloren und erwarteten, er müsse endlich was seine Situation und seine Möglichkeiten betraf in der Realität ankommen. Aber Einsicht lässt sich nicht erzwingen. Mit dem vom Sozialpsychiatrischen Dienst vermittelten Betreuer kam unser Sohn trotz seiner im Vorfeld vehementen Ablehnung gut zurecht: Wenn ihr nicht da seid, kann ich mich bei Problemen an ihn wenden. Die Betreuung war auf sieben Jahre befristet. Gegen Ende des sechsten Jahres war der Betreuer zuversichtlich, unser Sohn würde einer freiwilligen Verlängerung zustimmen. Dem war nicht so. Im Gegenteil. Unser Sohn verweigerte ohne Erklärung jeden weiteren Kontakt zu ihm. Die wenigen ruhigen Jahre waren vorbei.

Wie wir viel später von meiner Mutter erfuhren, hatte unser Sohn mehrmals vereinbarte Arztgespräche verstreichen lassen. Als er mit ihr wegen eines neuen Rezeptes in die Praxis kam, wurde ihm dieses aus dem Grund verweigert. War das Absetzen der Medikamente die Ursache seines langsamen erneuten Abdriftens in eine Parallelwelt? Er sah sich als eine Art Hausmeister und betätigte sich unerwünscht im und am Haus sowie der Grünanlage. Die Mahn- und Drohschreiben der Hausverwaltung, die uns Eltern als seine Vermieter erreichten, irritierten ihn zwar kurz, änderten aber nichts an seinem Verhalten.

Ein absurder Kreislauf aus Polizeieinsätzen, kurzen Psychiatrieaufenthalten, abgelehnten Betreuungsanträgen und erfolglosen Versuchen des Sozialpsychiatrischen Dienstes, mit unserem Sohn in Kontakt zu kommen, fand statt. Als die Eigentümergemeinschaft den Auszug unseres Sohnes forderte, war dies absolut nachvollziehbar. Die Grenze des Zumutbaren war in seiner aktuellen, schon langwährenden psychotischen Phase, mehrfach weit überschritten worden. Und niemand schien in der Lage zu sein, den Irrsinn zu stoppen. Der ist ja nicht gefährlich; der beschädigt nur anderer Leute Eigentum. Die Nachbarn waren aufgebracht, wir Eltern verzweifelt. Wir sahen die zwei folgenschweren Krankheitsphasen unseres Sohnes als Beleg dafür, dass ein eigener Haushalt zu risikobehaftet sei. Unser Sohn war als Mieter untragbar. Es musste eine Alternative gefunden werden. Ich suchte meinen Ansprechpartner beim Sozialpsychiatrischen Dienst auf, der unseren Wusch nach einem Wohnheimplatz für unseren Sohn wie eine Seifenblase zerplatzen ließ. Von diesen Plätzen gebe es zu wenige, die brauche man für schlimmere Fälle. Da unser Sohn eine Zeitlang mit Betreuung und
Medikamenten im eigenen Haushalt zurechtkam, sei er kein hoffnungsloser Fall. Für eine Einrichtung des betreuten Wohnens zu gesund. Für eigenständiges Wohnen ohne Betreuer und Medikamente zu krank. Eine Betreuung und Verabreichung von Medikamenten gegen seinen Willen nicht durchsetzbar.

Was nun? Wir Eltern stellten einen Betreuungsantrag und machten die Notwendigkeit mit mehreren Schreiben (insgesamt 9!) und Belegen als Beweis deutlich. Wir machten auf den drohenden Wohnungsverlust aufmerksam. Wir informierten das Betreuungsgericht darüber, dass unser Sohn seine mittlerweile anfangsdemente Oma besucht, um ihr Geld abzuschwatzen und sich um ihre Möbel und Elektrogeräte ‚zu kümmern‘. Ein Radio von ihr hatte er ‚zur Verbesserung der Funktion‘ schon in Einzelteile zerlegt und verklebt. Farbe für die Möbel seiner Oma hatte er bereits gekauft, die Maserung des Holzes erschien ihm irgendwie suspekt. In unserer Hilflosigkeit schalteten wir einen Anwalt ein: Um uns selbst abzusichern. Um den anderen Eigentümern und den Nachbarn zu signalisieren ‚wir kümmern uns‘. Um Druck zum Handeln auf die Akteure im Hilfesystem aufzubauen.

Tatsächlich bekam unser Sohn wieder gegen seinen Willen einen Betreuer. Vorab wurden wir vom Betreuungsgericht gebeten, den Besuch des Richters in der Wohnung unseres Sohnes zu ermöglichen. Mit einem Trick gelang mir das. Was wäre geschehen, wenn es mir nicht gelungen wäre? Die Sachbeschädigungen durch unseren Sohn gingen weiter. Ich hielt den Betreuer darüber auf dem Laufenden. Der stellte einen Antrag auf Zwangseinweisung. Das Gericht gab daraufhin beim Sozialpsychiatrischen Dienst ein Gutachten in Auftrag. Die Beauftragung ging an diese Stelle, weil unser Sohn dort bekannt sei, sagte man uns. Ich frage mich, wer wäre ansonsten beauftragt worden und wie wäre diese Person zu qualifizierten Aussagen gekommen? Die Gutachterin hatte Schwierigkeiten, Argumente für eine Zwangseinweisung zu formulieren: Ihr Sohn erhält noch Geld vom Sozialamt. Er ist weder selbst- noch fremdgefährdend. Er hat ein Dach über dem Kopf. Es klappte dann doch. Laut Information des Betreuers ordnete das Gericht eine Zwangseinweisung für sechs Wochen mit der Option auf Verlängerung an.

Unser Sohn verstand nicht, warum er schon wieder in der Psychiatrie ist. Er kennt sich durch die vielen vorherigen Aufenthalte aus: Wenn ich mich an die Regeln hier halte und zuverlässig bin, kriege ich bald Heimaturlaub. Tatsächlich hatte er laut eigener Aussage gute Chancen, schon nach wenigen Tagen für befristete Zeit in seine Wohnung zu dürfen. Diese Zeit wollte er nutzen, wie er mir sagte, um Arbeitsmaterial zu kaufen, mit dem er seine Arbeiten am Dachboden fortsetzen wollte.

Ich gab diese Information in Panik per E-Mail an den behandelnden Arzt weiter. Wütend teilte unser Sohn mir am nächsten Tag mit, der Arzt hätte seinen Wunsch auf Heimaturlaub mit dem Hinweis, dass wir Eltern dies nicht wünschen, abgelehnt. Aufgebracht telefonierte ich mit dem Arzt. Erklärte, dass wir einen Elektriker beauftragt haben, der die Sicherheit in der Wohnung überprüfen soll, da unser Sohn an Steckdosen gewerkelt und sämtliche Sicherungen im Sicherungskasten verklebt und gestrichen hat. Und dass es kontraproduktiv sei, unseren Sohn in seinem Wahn nach Hause zu lassen. Ich redete mich in Rage und fragte, ob er, der Arzt, für die Schäden aufkommt, die unser Sohn während eines Heimaturlaubes begeht. Der Arzt reagierte genervt: Ja, ja, ich habe verstanden!

Wir Eltern waren davon ausgegangen, dass nun wirklich alle beteiligten Akteure im Hilfesystem über die Situation informiert sind und hatten die Erwartung, gemeinsam würde an einer Lösung gearbeitet. Heute weiß ich, dass es in unserer Stadt keine Strukturen für eine Zusammenarbeit wie sie nötig gewesen wäre und wie wir sie uns vorgestellt hatten gibt. Die Gründe dafür sind sicher vielfältig.

In dem Vierteljahrhundert seiner psychischen Erkrankung war unser Sohn unzählige Male immer in derselben Klinik Patient; bis auf die allerersten Aufenthalte unter Zuständigkeit desselben Oberarztes. Mehrmals wurde eine Betreuung für ihn beantragt. Es war immer dasselbe Gericht zuständig. Schon vor seinem ersten Klinikaufenthalt hatte ich Kontakt zum Sozialpsychiatrischen Dienst; bis zum Frühjahr 2018 zum selben Mitarbeiter, der auch sporadisch unserem Sohn besuchte. Selbst wenn wir Eltern in psychotischen Phasen unseres Sohnes in seinen Wahnvorstellungen Bösewichte waren, riss der Kontakt zwischen uns nie ab und er hatte immer die Behandler von ihrer Schweigepflicht uns gegenüber entbunden. Trotz dieser aus meiner Sicht guten Voraussetzungen hatte sich das Hilfesystem als unfähig erwiesen, unseren chronisch erkrankten Sohn ohne den massiven Einsatz von uns Eltern in seiner akuten Krankheitsphase aufzufangen. Die Bundesregierung hat sich dem EU-Ziel angeschlossen, bis 2030 Wohnungslosigkeit in Deutschland zu ‚überwinden‘. Am Beispiel unseres Sohnes sehe ich, es müsste mehr dafür getan werden, dass psychisch erkrankte Menschen erst gar nicht auf der Straße landen.

Die erste Mahnung der Hausverwaltung erhielten wir im Juni 2017, zur Zwangseinweisung unseres Sohnes kam es im Juni 2019. Viel Zeit, die Nachbarn gegen sich aufzubringen und Schulden anzuhäufen. Hat irgendjemand vom Nichteingreifen in das psychotische Treiben unseres Sohnes profitiert? Ich sehe nur Verlierer. Die Diskussion darüber, wie mit den Herausforderungen durch psychische Erkrankung umgegangen werden soll, gehört meiner Überzeugung nach in die Mitte der Gesellschaft, denn dort entfaltet sie ihre mitunter unheilvolle Wirkung.

Seit Herbst 2019 besitz unser Sohn einen Behindertenausweis, den er bis dahin strikt abgelehnt hatte. Er bekennt sich zu seiner psychischen Erkrankung, die sich nach wie vor in unterschiedlicher Form bemerkbar macht. Im Oktober 2022 stimmte er einer Verlängerung seiner Betreuung zu. Für uns Eltern ein Highlight in seiner Krankheitsgeschichte; ein Umstand, der hoffen lässt, aber kein Grund zur Entwarnung ist.

von Helga Kunz

Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.

Kontakt: kontakt@angehoerige-im-mittelpunkt.de

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