Angehörige machen Geschichte(n) – Unsere Geschichte beginnt im Juni 1992

Unsere Geschichte beginnt im Juni 1992

Nach vielen Jahren des Wartens erhielten wir als Familie einen Anruf: Ein fünf Monate altes Baby, das dringend versorgt werden musste, suchte ein Zuhause. Die Mutter war nicht in der Lage, sich um das Kind zu kümmern, und so sollte es in eine Pflegefamilie kommen. Zunächst waren wir erschrocken, denn wir hatten uns ein Kind zur Adoption gewünscht, nicht zur Pflege. Doch da wir unser Leben stets in Gottes Hände legen, nahmen wir auch diese Situation ernst und beschlossen, gemeinsam im Gebet eine Entscheidung zu treffen. Am nächsten Morgen waren wir gespannt darauf, was jeder von uns „empfangen“ hatte. Es war ein eindeutiges JA: Wir sollten den kleinen Jungen aufnehmen.

Zunächst schwebten wir auf Wolke sieben. Ein wunderschöner Junge, winzig klein, wog mit seinen fünf Monaten nur 5.400 Gramm. Wir päppelten ihn liebevoll auf. Jahrelang lebten wir in der Angst, dass seine Mutter ihn zurückholen könnte. Doch nach sieben langen Jahren voller Bangen gab sie ihn schließlich zur Adoption frei. Zu unserem großen Glück durften wir genau neun Monate nach der Aufnahme des ersten Kindes das zweite Kind derselben Mutter und desselben Vaters, diesmal zur Adoption, aus der Frühgeborenenstation abholen. Unser Glück war vollkommen.

Doch nach und nach bemerkten wir, dass unser jüngster Sohn sich nicht so entwickelte wie andere Kinder in seinem Alter. Bald erfuhren wir, dass er an einem Balkenmangel litt – einer teilweisen Unterbrechung der Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften. Lange war uns nicht klar, wie sehr dies seine Psyche beeinflussen würde. Bis heute kann er nicht sprechen und ist so beeinträchtigt, dass er in allem auf Hilfe angewiesen ist. Er ist jetzt 31 Jahre alt. Trotz seiner Einschränkungen ist er ein Sonnenschein, sehr einfühlsam und versteht jede Regung der Seele. Freud und Leid teilt er auf eine liebevolle und einfühlsame Weise, und wir empfinden ihn wirklich als Geschenk. Aber auch die Trauer, die Enttäuschung und die enorme Kraft, die wir brauchten und bis heute benötigen, möchte ich nicht verschweigen. In den letzten Jahren hat sich bei ihm eine sehr geringe Frustrationstoleranz entwickelt. Er reagiert mit heftigen Ausbrüchen, wenn ihm etwas zu schnell geht oder wenn er zurückgehalten wird, wenn etwas Erhofftes und Versprochenes nicht möglich ist. Besonders dramatisch wird es, wenn er sich von etwas oder jemandem verabschieden muss. Er zeigt dies, indem er seine teure Brille wirft oder zertritt, mit dem Kopf fünf bis zehn Mal auf den harten Steinboden schlägt. Für mich ist es jedes Mal fast unerträglich, das mit ansehen zu müssen. Er wirft alles, was ihm in die Hände kommt, auf den Boden oder gegen mich/uns oder jemanden in seiner Nähe, zum Beispiel die Oma, die uns sehr unterstützt. Wenn man sich in solchen Momenten klug verhält und einfach leise weggeht, dauert der Anfall meist nur einige Sekunden. Dann signalisiert er, dass er „fertig“ ist, beruhigt sich, drückt sich an uns und will gehalten werden.

Mit unserem „großen“ Sohn, der jetzt 32 Jahre alt ist, fühlen wir uns oft überfordert. Ich war als Mutter immer zu Hause, weil meine Berufung die Kinder sind und ich auch sehr gerne alles dafür getan habe, damit sie ein schönes Leben haben. Schon im Kindergarten fiel auf, dass er sich in fremder Umgebung nicht entspannen konnte. Zu Hause war er oft so erschöpft, dass er 17 Stunden am Stück schlief. Er war ein Einzelgänger, der viel puzzelte, las und gerne allein spielte. Die Schule stresste ihn, weil er sehr schnell lernte und ihm der Unterricht zu langsam voranging. Deshalb lernte er zu Hause nie. Mit zehn Jahren äußerte er den Wunsch nicht mehr leben zu wollen und er litt sehr an der Wahrheit, dass er von seiner Mutter „weggegeben“ wurde. Viele Gespräche mit den Lehrern ergaben, dass wir mit ihm zum Arzt gehen sollen und auch eine Therapie beginnen müssen. Die Diagnose lautete ADS, die sich im Laufe der Pubertät in eine Persönlichkeitsstörung wandelte. Was sollte man damit anfangen? Zwei Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken brachten leider keine Besserung. Die Spieltherapeutin erkannte die wirkliche Not des Jungen nicht – und nach vielen Gesprächen mit Ärzten und Therapeuten wollte er nirgendwo mehr hingehen, um sich „helfen“ zu lassen. Seiner Meinung nach hatte nicht er das Problem, sondern wir – das sagt er bis heute.

Ich möchte nicht im Detail darauf eingehen, wie schlimm sein Zustand in den letzten zehn Jahren geworden ist. Er schwankt zwischen Entspanntheit und ausfallenden, beleidigenden Wut- und Schreianfällen, die uns immer wieder persönlich sehr verletzen. Wir tun bis heute alles um ihm zu helfen. Alle bürokratischen Dinge übernahmen wir bis jetzt voll. Das sieht er nicht und ist zwischen Wut, Hass und Vorwürfen gefangen. Er lehnt jede Hilfe ab und verurteilt uns, dass wir uns nicht kümmern. Wir können nur beten, dass Gott ihn bewahrt, ihm seine und unsere Liebe zeigt und er sich dem „Vaterherzen“ anvertraut, auch dem seines Papas, meines Mannes. Mein Mann hilft, unterstützt, übernimmt viele Aufgaben, kümmert sich um Dinge, die unser Sohn nicht selbst bewältigen kann – und wird dennoch beleidigt, gekränkt und beschimpft wie niemand sonst.

Meine beste Freundin schrieb mir während der Kleinkinderzeit einen Vers aus der Bibel, der bis heute sehr passend für mich ist und mir/uns hilft, nicht aufzugeben:

„Darum werft euer Vertrauen nicht weg, denn es hat eine große Belohnung.“ (Hebräer 10,35)

Und so tun wir es Tag für Tag: auf Gott vertrauen und ihn anflehen. Für unseren Kleinen und unseren Großen, die ER uns beide anvertraut hat.

B.u.R., 40 Jahre verheiratet, durch Höhen und Tiefen getragen, Vergeben und Vergebung empfangen und deshalb glücklich miteinander und immer fester verbunden. Eine solche Last zwei schwer kranke Kinder zu begleiten, hat uns zusammengehalten und der Glaube an Gott und sein Wort gestärkt. Wir haben nie daran gedacht, uns zu trennen – das war für uns nie eine Option. Mit Gottes Hilfe werden und wollen wir es schaffen, komme was wolle.

von “Hoffnung”

Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.

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