Angehörige machen Geschichte(n) – Vertrauensbruch

Vertrauensbruch

Meine Mutter ärgert sich. Über den Pädagogen in der Klinik, der meiner Tochter gesagt hat, ich sei ein wichtiger Teil ihrer Essstörung; ob ich sie vielleicht insgeheim nicht groß werden lassen wolle, weil ich Angst habe, allein zu sein? Als meine Tochter mir davon erzählt, liegt das Gespräch zwischen ihm und ihr schon einige Wochen zurück. Sie hat genug von Klinik, will nach Hause und als ich sie fürs Wochenende abhole, sagt sie: „Die lästern über dich, Mama.“

Ich kann es nicht glauben. Der Pädagoge ist so alt wie ich, hat dasselbe Fach studiert wie ich, vielleicht sogar an derselben Hochschule. Wir könnten Freunde sein. Ich kenne ihn nur vom Telefon und halte ihn für nett, aber verpeilt, vielleicht ein bisschen ausgebrannt – der typische Erzieher, der auch mal Fünfe gerade sein lässt und spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. „S3-Leitlinien? Nie gehört“, sagte er mir, als ich darum bat, für die Wochenenden zu Hause einen Essensplan oder wenigstens einen Anhaltspunkt zu kriegen, wie viel meine Tochter essen müsse. „Vielleicht hatte er einfach einen schlechten Tag und klang genervt?“ – „Nein, die lästern über dich“, sagt meine Tochter auf dem Beifahrersitz. „Rede dir das nicht schön.“

Ich denke: Aber er muss doch merken, dass sie mich täglich anruft und brühwarm aus dem Klinikalltag erzählt? Ich weiß, welche Pädagogin wo tätowiert ist, wer ihr das Handy außer der Regel auch mal früher gibt und dass die Stationsleiterin nicht antwortet, wenn sie fragt, ob sie den Donut wirklich, wirklich aufessen muss: „Ich sage dir höchstens, wenn du mal zu viel isst!“ Was machen die da? Paradoxe Intervention vielleicht? Aber meine Tochter ist noch stark im Untergewicht. Genug zu essen ist für sie wesentlich. Und Erwachsene, die ihrer „kranken“ Seite klar Paroli bieten. Die miteinander reden, statt übereinander.

Ich kenne solche Geschichte schon aus der Selbsthilfegruppe. „Unsere Kinder sind doch keine Versuchskaninchen“, schimpfen die anderen Eltern da. Und meine Mutter schimpft über den Pädagogen. Sie arbeitet fürs Jugendamt und kennt solche Typen. „Der wollte sich anbiedern“, glaubt sie. Die Ergotherapeutin, bei der ich meine angestaute Verwirrung abarbeiten will, sagt: „Den könnten Sie anzeigen.“

In der nächsten Stunde hat sie sich um 180 Grad gedreht. Nochmal drüber nachgedacht. Sie erzählt, wie sie mal aus einer Reha kam und beim Lesen des Arztbriefs dachte, da sei sie verwechselt worden. Es fehlen halt die Ressourcen im Gesundheitssystem, denkt sie. Ich habe das Gefühl, sie glaubt mir nicht mehr. „So hat man Essstörungen früher behandelt, aber doch heute nicht mehr.“ Über meine Tochter sagt sie: „Na, sie hat die Entscheidung getroffen, nach Hause zu kommen!“ Aber meine Tochter ist 13. Ich bin alleinerziehend. Und als das Wochenende vorbei und der Beifahrersitz wieder leer ist, ballt sich in mir blanke Angst. Angst, mit der Krankheit wieder allein zu sein.

In der Behandlung meiner Tochter sind Fehler passiert. Einige. Es war möglich, diese Dinge nachträglich zu besprechen. Das hat uns alle viel Kraft gekostet. Nur meine Tochter macht einfach ihr Ding. Sie mampft Blaubeeren und ruft: „Guck Mama, die esse ich zusätzlich!“ Verschluckt morgens ihr Mundziehöl und freut sich, dass sie deshalb nicht ausrastet. Öl im Mund? Ist heute keine Katastrophe mehr.

All der Stress hatte auch mit der Pandemie zu tun, mit fehlenden Ressourcen, schnellen Schlüssen, Missverständnissen, mit fehlender Supervision in der Klinik und fehlender Kommunikation zwischen uns Erwachsenen. Und sicher auch mit ein paar vorschnellen Vorstellungen darüber, wie „die Eltern“ sind oder sein könnten, wenn ein Kind an einer Anorexie erkrankt ist. Manchmal scheint es aus irgendeinem Grund okay zu sein, Menschen zu kategorisieren, wenn sie Angehörige sind: Vielleicht machen sie zu viel? Oder zu wenig? Oder das Falsche? Ist es okay, wenn sie googeln und nachfragen, wenn sie sich einen neuen Kühlschrank kaufen – aber nicht, wenn ihr Kind lebensbedrohlich krank ist? Und wer entscheidet, was richtig und falsch ist? Eigentlich bräuchten wir doch eine riesige Fehler-Datenbank, mir der wir gemeinsam all unsere Misserfolge feiern und lernen, was besser hilft als das, was wir schon ausprobiert haben.

Ich telefoniere mit einem Freund, der Anorexie hat. Er ist so alt wie der Pädagoge und ich. Studiert hat er nicht. Stattdessen wurde er jahrelang mit einer Erkrankung behandelt, die er nicht hatte. „Es ist okay“, sagt er. „Sie haben es ja alle gut gemeint.“ Ich erzähle ihm, dass ich immer wieder davon lese, dass Angehörige bei einer Anorexie manchmal keine Grenzen in der Familie zulassen. Dass in der Fachliteratur immer wieder dieser eine Fall zitiert wird, bei dem eine Familie in der Wohnung alle Türen aushängte, als Zeichen dafür, dass nichts geheim sein dürfe. Wenn ich die Quellen dazu nachverfolge, lande ich in den 1980er-Jahren. „Kennst du das auch?“, frage ich meinen Freund, und er sagt: „Türen aushängen? Nie gehört!“. Wir wundern uns. Tauschen Erfahrungen aus. „Würde es dir helfen, wenn jemand beim Essen dabeisitzt?“, frage ich, und er lacht: „Nee, ich bin ja erwachsen.“

Und schließlich wünscht er mir eine gute Nacht: „Ich hänge jetzt mal meine Türen aus und esse was Kleines.“ Wer weiß, vielleicht hilft es ja?

von Rabea

Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.

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