Vom Wunsch es zu schaffen
Ich saß mit meiner Mutter bei uns im Wohnzimmer. Schweigend schauten wir uns an. Ich wusste, was sie sagen wollte. Damit ich es nicht hören musste, stand ich schnell auf. „Ich mache uns Kaffee“, sagte ich und verschwand in der Küche. Ich holte die Kaffeekanne, stellte sie auf die Arbeitsfläche, umschlang sie mit beiden Händen und hielt mich daran fest. Meine Mutter, sie verstand es nicht, dass ich meinen Mann Matthias liebte, egal wie es ihm ging und egal, wie schwierig es war.
Mein Blick fiel auf das Bild an der Küchenwand, darauf unsere damals vierjährige Tochter Laura, Matthias und ich, wir in einem Café vor dem Kolosseum. Laura war so aufgeregt gewesen, sie hatte den ganzen Tag geplappert. Das war jetzt drei Jahre her.
Lächelnd füllte ich Wasser und Kaffeepulver in die Kaffeemaschine, schaltete sie an und blickte wieder auf das Bild.
Mir fiel ein, warum Laura so aufgeregt gewesen war. Es war der einzige Tag in Rom, den wir zu dritt verbracht hatten. Die anderen Tage war Matthias im Hotelzimmer geblieben. Rom sei ihm zu laut, zu voll, die Menschen unfreundlich. Außerdem könne er nachts nicht schlafen. Tagsüber war er dann zu müde, um mit uns in die Stadt zu gehen. Laura hatte bitterlich geweint, weil sie glaubte, sie müsse die ganzen Ferientage im Hotel verbringen.
Das Bild zeigte uns bei dem einzigen Ausflug, den wir zusammen gemacht hatten.
Tränen liefen über meine Wangen. Ich spürte ihn, den Schmerz in meinem Herzen. Ich atmete tief ein, wischte die Tränen weg und ging mit frisch gemachtem Kaffee zurück ins Wohnzimmer.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Mutter und setzte diesen einen Blick auf, den sie immer hatte, wenn sie die Antwort eigentlich schon kannte. „Hast du schon einmal über eine Trennung nachgedacht?“
„Nein!“, antwortete ich. „Ich liebe Matthias, alles wird gut werden. Da bin ich mir sicher!“
„Wirklich? Vier Mal war er schon in der Klinik, oder?“
Ich schrie: „Er kann nichts dafür! Er hat sich die Posttraumatische Belastungsstörung nicht ausgesucht und auch nicht die Depression.“ Wieder liefen mir Tränen die Wangen herunter. Diesmal aus Trauer, um das glückliche Leben, das wir uns vorgestellt hatten und das wir nie haben werden. Ich weinte um Matthias und um das Leid, das ich jeden Tag in seinen Augen sah.
„Wie geht es eigentlich Laura?“, fragte Mutter. Sie schaute mich durchdringend an.
„Gut“, antwortete ich, bückte mich und hob Lauras Gabel vom Boden auf. Da war er wieder, der Schmerz in meinem Herzen.
Beim Essen hatte Laura die Gabel fallen lassen. Mein Mann war blass geworden, alle Mimik war aus seinem Gesicht gewichen. In seinen Augen sah ich die Angst und die Anstrengung, die es ihn kostete, sitzen zu bleiben. Ich spürte seinen Wunsch, das Klirren der Gabel auf Laminat auszuhalten. Ich sah sie, die Angst von damals, die wie eine Welle über ihn hereinbrach. Er verschwand dahinter und hatte keine Kraft mehr, um bei mir und Laura sitzen zu bleiben. Mit tonloser Stimme sagte er: „Ich muss jetzt gehen“, stand auf und ging aus dem Zimmer.
Laura blickte ihm nach, kurz schaute sie mich an und ich sah den gleichen versteinerten Gesichtsausdruck, wie ihr Papa ihn so oft hatte. Laura stand auf, rannte in ihr Zimmer und legte sich aufs Bett. Wie immer ging ich hinterher und nahm sie in den Arm. „Es ist nicht deine Schuld. Papa geht es schlecht, er ist doch krank.“
„Ich habe mich so angestrengt, aber die Gabel ist einfach runter gefallen. Bei diesem Satz wurde der Schmerz in meinem Herzen unerträglich. Ich umarmte sie, meine Tochter.
Am liebsten hätte ich meiner Mutter versichert, dass es Laura wirklich gut gehen würde, dass es richtig sei, dass ich mich für unsere Familie entscheide, dass Laura ihren Vater und ihre Mutter brauche. Stattdessen konnte ich die Tränen nicht mehr aufhalten. Meine Mutter setzte sich neben mich, legte ihren Arm um meine Schulter und hielt mich ganz fest.
An diesem Abend fiel nicht die Gabel herunter, sondern ein Wasserglas. Wieder versteinerte sich das Gesicht meines Mannes, wieder sah ich den Schmerz, die Angst und auch eine immer größer werdende Hilflosigkeit. Wieder spürte ich seinen Wunsch, sitzen zu bleiben. Wieder stand er auf und ging.
Einige Monate später stand Laura vor einem großen Kuchen mit acht Kerzen. „Mama, wenn ich sie alle auspuste und mir wünsche, dass Papa wieder kommt, geht das dann in Erfüllung?“
Anstatt zu antworten schaute ich auf das Bild, das uns drei vor dem Kolosseum zeigte, inzwischen hängte es vergrößert im Wohnzimmer. „Nein, Laura. Papa wird nicht wieder kommen“, antwortete ich und merkte, wie mir fast die Luft wegblieb.
Traurig schaute Laura mich an. Sie setzte sich neben mich, legte ihren Arm um meine Schulter und hielt mich ganz fest.
Von Nina Rothenburg
Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.
Kontakt: kontakt@angehoerige-im-mittelpunkt.de
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