Angehörige machen Geschichte(n) – Was ist denn eigentlich normal Mama?

photo of man wearing hooded jacket in front of body of water

Was ist denn eigentlich normal Mama?

Diese Frage stellte mir mein über 31-jähriger Sohn während eines Spazierganges seines zweiten Krankenhausaufenthaltes in der Psychiatrie.
Unser Sohn bekam mit 30 Jahren die Diagnose Bipolare Störung, dieses war nun schon der zweite Krankenhausaufenthalt in kurzer Zeit und doch begriffen mein Mann und ich die Auswirkungen der Erkrankungen noch immer nicht. Wir hatten uns belesen und erkundigt.
Trotzdem dachten wir nach der ersten Krise, wir könnten einfach so weiter machen mit dem Leben innerhalb unserer Familie. Natürlich war dies ein Trugschluss.

Wie Schuppen fiel es mir also von den Augen, als unser Sohn mir diese Frage völlig ernst und belanglos stellte. Innerhalb weniger Sekunden zog unser gesamtes Leben an mir vorbei und es wurde mir auf einmal völlig klar, wieso unser Kind schon als Kleinkind keinerlei Kälte- und Wärmeempfinden hatte, er lief bei 30 Grad mit Rolli und im Winter mit kurzen Hosen zur Schule;
er wusste nie, welche Sachen ihm gehörten, konnte Verbummeltes nicht beschreiben, in der Pubertät gab es keine Regeln für ihn, er war anstrengend und verhaltensauffällig, wir waren in ständiger Sorge, wenn sich Besuch anmeldete oder Feierlichkeiten anstanden, würde er sich benehmen?
Das alles waren also schon die Vorboten der Erkrankung, als Eltern vermutet man nicht in jedem schwierigen Kind eine Erkrankung – wir liebten ihn, genau wie seine unkomplizierte Schwester, unvoreingenommen und selbstlos.

Diese Frage also bewirkte nun innerhalb unserer Familie ein völliges Umdenken, aus unserer bisheriger Geheimniskrämerei wurde ein offenes Wort zu Fragen von Menschen unseres Umfeldes, unser bisher leistungsorientiertes Denken wurde in Frage gestellt. Eine Ansichtskarte einer Freundin mit dem Spruch „Mit einer Schraube locker, hat das Leben mehr
Spiel!“ löste in mir einen befreienden Lachanfall aus und ja, ich muss ihr zustimmen.

So schwer die Krankheit unseres Sohnes die ganze Familie betrifft und umtreibt, hat sie doch ein anderes Miteinander und einen anderen Blick auf die Dinge des Lebens bewirkt. Viele Dinge sind uns unwichtig geworden, wir alle freuen uns über gesunde Phasen während der Krankheitskrisen, wir genießen ein anderes Zusammensein und sind auch anderen Menschen
gegenüber mitfühlender geworden.

Mittlerweile ist unser Sohn fast 40 Jahre alt und bewältigt seinen Alltag fast selbständig. Wir haben gelernt, ihm zu helfen, ohne seinem Wunsch nach Autonomie zu vergessen. Er weiß, dass unsere Familie seine Stütze ist und kann mit diesem Hintergrund sein Leben meistern.

Fast 10 Jahre sind nach der ersten Diagnose vergangen und wir als Eltern lernen noch immer dazu. Die größte Hilfe in schwerer Zeit ist unsere Selbsthilfegruppe, das Gefühl zu haben, dass andere verstehen, wie es uns geht, aussprechen können, was uns bewegt, ist sehr wichtig.

Jedem betroffenen Angehörigen können wir nur raten, sich Hilfe bei anderen Betroffenen zu holen, allein sind die schwersten Krisen schwer zu überstehen.
(Danke Maren und Günter, dass wir euch gefunden haben).

von Lydia

Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.

Kontakt: kontakt@angehoerige-im-mittelpunkt.de

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