Willkommen in unserer Welt
Angehörige von schwer psychisch herausgeforderten Menschen unterstützen ihre erkrankten Familienmitglieder in bester Absicht, aber oft mit mangelndem Wissen, mangelnder Erfahrung und häufig mit fehlenden Ressourcen bis zur Selbstaufgabe. Viele von ihnen erkranken selbst, fühlen sich dauerhaft schwer belastet und finden sich mit Lebenssituationen ab, die nicht nur sie selbst permanent bis an die Grenze des gerade noch Erträglichen herausfordern, sondern auch das Krankheitserleben der betroffenen Familienmitglieder stabilisieren. Sie werden von den Fachleuten als störend, von ihrer Umwelt sogar als schuldig angesehen. Ihr Leid, ihre Verzweiflung und ihr Schmerz bleiben unsichtbar.
Niemand, der es nicht selbst erlebt hat, kann sich z.B. vorstellen, wie es ist, mit einem schwer psychisch kranken Menschen in den eigenen vier Wänden den Alltag bewältigen zu müssen. Nichts ist mehr berechenbar, alle Regeln des Lebens und Zusammenlebens sind plötzlich außer Kraft gesetzt. Kein noch so toleranter und flexibler Mensch hält es aus, permanent auf allen Ebenen, mit allen Sinnen herausgefordert, überfordert zu werden. Es sei denn, ja, er/sie entwickelt eine
„Überforderungsbewältigungskompetenz“. Willkommen in unserer Welt!
Seit zwei Jahren trifft sich unsere Angehörigengruppe. Wir sprechen aus, was keine/r hören will und was wir selbst nur schwer über die Lippen bringen. Nach der letzten Runde, in der jede/r kurz berichtet, wie es derzeit läuft, wird es still. Wir stellen uns jetzt eine Frage: Wie können Menschen so etwas aushalten, durchstehen, ertragen? Etwas naiv denke ich, wenn ein naher Angehöriger stirbt, kann man sich mit Stolz an sie/ihn erinnern und hat nach 5-6 Jahren wieder halbwegs festen Boden unter den Füßen. Das ist bei uns gänzlich ausgeschlossen. Von Stolz kann keine Rede sein, wenn jemand nachts vor unserer Haustür herumbrüllt, uns bedroht und den Rest der Zeit schmutzig, obdachlos und schimpfend durch die Stadt zieht und sich aus Mülltonnen ernährt. Darf ich vorstellen: Mein Sohn! Allenfalls vorübergehend kehrt etwas Ruhe ein und jeder weiß, das ist die Zeit vor dem nächsten Sturm!!! Unser Sohn hatte es tatsächlich geschafft, von Obdachlosigkeit und Drogenabhängigkeit über betreutes Wohnen wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Aber dann ist das Leben, wie es nun einmal ist: eine herausfordernde, manchmal gar nicht so lustige Veranstaltung. Und dann geht alles wieder von vorne los. Willkommen in unserer Welt!
„Sind alle anderen die krank im Kopf sind, nicht ich?“, schreibt er mir über WhatsApp und es ist die letzte Nachricht, die er mir schreiben wird, denn jetzt hat ihn die Psychose wieder fest im Griff und diktiert ihm, wie das Leben wirklich und wahrhaftig ist: nämlich ganz großartig, denn er ist ein bedeutender Star und auf der ganzen Welt warten andere Sternchen auf ihn. Es ist viel einfacher, gerade noch einen Pass zu organisieren, um in ein fernes Land zu reisen, als die Küche in seiner Wohnung zu putzen, aus der jetzt langsam die Maden Richtung Haustür kriechen. Die Eltern, die Geschwister, sie sind das Ungeziefer, sie wollen nicht, dass er ein Star wird. Sie wollen ihn klein halten!
Irgendwann muss man sich damit abfinden, dass man ein völlig unbedeutender Mensch ist und sich im Grunde genommen niemand dafür interessiert, was man macht. Fast jede/r ist ständig und überwiegend ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Da kann man doch sein armseliges Leben genießen, sich an Stauden, Bäumen und Bienen erfreuen und den Vögeln beim Baden zuschauen, denn das ist wirklich lustig! Aber unser Sohn kann das nicht. Er kann sich nicht, wie ich, an jungen Menschen erfreuen, an ihrem Lachen, ihren Ideen und ihrer Energie. Er kann sich auch nicht für anstrengende Wanderungen begeistern, bei denen man bei jedem Schritt eine andere Perspektive auf die stolzen Gletscher hat. Das alles reicht ihm nicht. Seine Identität steht und fällt mit einem Job bei einer namhaften(!) Firma, einem teuren Auto mit Mercedes-Stern, einer schicken Freundin und schließlich einem Kampfhund, der wichtig ist, damit ihm niemand nahe genug kommt, um zu erkennen, dass alles andere nur Fassade ist. Er ist sich selbst nicht genug, mein Sohn.
Auftritt des Konjunktivs: „Ich hätte, man hätte, ich hätte sollen und wenn ich doch nur…“ Aber hier hilft die Angehörigengruppe, denn alles, was ich mir vorwerfe, nicht getan zu haben, hat jemand anderes schon versucht und es hat auch nicht geholfen. Die Angehörige wirft sich sogar vor, es überhaupt versucht zu haben, weil vielleicht gerade das das Problem verschlimmert hat? Und dann geht es in die nächste Runde mit dem Konjunktiv.
Ich weiß nicht mehr, was ich denken und wie ich reden soll. Ist mein Sohn „krank“, „verrückt“,
„psychisch herausgefordert“, „neurologisch divers“? Wahrscheinlich ist es egal, welche Worte man wählt, denn nach einiger Zeit hat jeder noch so schöne Euphemismus wieder den alten schlechten Klang. Ich weiß auch nicht, was ich von Diagnosen halten soll, sind sie hilfreich oder nur entmutigend und tragen zur Stigmatisierung und fast noch schlimmer zur Selbststigmatisierung bei? Wer will denn ernsthaft sein Leben als Schimpfwort verbringen?
„Ich bin nicht so für Medikamente“, höre ich oft. Was soll ich dazu sagen? Haben Sie schon einmal versucht, einen ICE auf offener Strecke mit bloßen Händen zu stoppen? Ähnlich geht es mir, wenn mein Sohn keine Medikamente nimmt und die nächste Psychose anrollt. Bei einigen Naturvölkern, so lese ich, kettet man Betroffene an die letzte Hütte im Dorf. Wer das unmenschlich findet, sollte einmal darüber nachdenken, dass bei uns die Medikamente die Kette sind, an die wir unsere
„Kranken“ legen, und wie gut für uns, dass wir die Kette dann nicht sehen müssen. Wir sehen nur die Dauererschöpfung, die 50 kg Gewichtszunahme, das ständige übermäßige Schwitzen. Wir sehen nicht, was die Betroffenen fühlen, nämlich gar nichts mehr. Wir sehen auch nicht, dass sie die Welt nur noch in Grautönen wahrnehmen, dass sie sich nicht mehr als Menschen fühlen, sondern nur noch als Zombies. Vielleicht kann der eine oder andere, der an die letzte Hütte gekettet war, später von der Kette gelassen werden. Vielleicht können einige später wieder ohne oder mit ganz wenig Medikamenten leben. Mein Sohn gehört nicht dazu. Er kann nicht mit, aber auch nicht ohne Medikamente leben. Für ihn gibt es nur ein mögliches Leben: das Leben in der Psychose.
Willkommen in seiner Welt!
Und dann die Hoffnung. Die darf man angeblich auf keinen Fall verlieren. Manche Angehörige
sprechen sogar von „Hoffnungssturheit“. Mir geht es viel besser, seit ich mir keine Hoffnung mehr mache. Irgendwann habe ich in der kleinen Kirche bei meiner Arbeit um die Ecke Verantwortung und Hoffnung zusammen dem Herrgott übergeben. Ich will nicht mehr dem ewigen Auf und Ab, Hoffnung und dann wieder keine und Hoffnung und dann wieder keine, ausgeliefert sein. Mir hilft der Perspektivwechsel: Wie unbedeutend alles ist angesichts der Ewigkeit und der Größe des Universums. Was ist schon ein Menschenleben, ist es wirklich so bedeutsam?
„Alles, was mir im Leben wichtig ist, kann ich nicht erreichen“, sagt mein Sohn. Trost gibt es für ihn nicht, auch nicht das „Zweitbeste“. Er weint bitterlich.
In Gedanken stehe ich an seinem Grab und kann ihm und mir vergeben. Wem das Leben so gar nicht gelingen will, den sollte man damit nicht quälen.
von Anja K.
Diese Geschichte wurde uns im Rahmen der bundesweiten Aktion „Angehörige machen Geschichte(n)“ zugesandt.
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